Die Reichspogromnacht in München: Beginn des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte

München - Für Familie Both war es zunächst ein schöner Abend. Gemeinsam hatten das jüdische Ehepaar und ihr erwachsener Sohn am 9. November ein Theaterstück in den Münchner Kammerspielen angesehen. Doch als die drei gegen Mitternacht nach Hause in die Lindwurmstraße kamen, begann ein Albtraum.
Sie sahen, dass Unbekannte in den Stunden zuvor die Scheiben ihres gleichnamigen Sendlinger Modegeschäfts eingeschlagen hatten. Während Sohn Max das Auto in die nahe gelegene Bavaria-Garage brachte, wollte Vater Joachim Both umgehend in der im selben Haus gelegenen Familienwohnung nach dem Rechten sehen.
Reichspogromnacht: Münchner kaltblütig von SA-Mann erschossen
Doch noch am Hauseingang attackierten ihn mehrere SA-Männer. Ein Trupp von Hitlers Braunhemd-Schlägern war zuvor gewaltsam in die Wohnung eingedrungen, um zu plündern. Sie schlugen Joachim Both zusammen und zerrten ihn in die Wohnung. Dort erschoss ein SA-Scherge den 62-Jährigen kaltblütig aus nächster Nähe. Seine Frau Marjem wurde mit einem Faustschlag daran gehindert, mit in die Wohnung zu kommen. Der Sohn wollte helfen – doch man verschleppte ihn in ein Polizeirevier.
Joachim Both hatte zuvor Ärger mit seinem Hausmeister gehabt. Der stramme NSDAP-Kader hatte angekündigt, sich zu rächen – die Reichspogromnacht bot ihm die Gelegenheit dazu.

Über 1.000 Menschen sind in der Reichspogromnacht ums Leben gekommen
Der erfolgreiche Geschäftsmann Joachim Both war nicht der einzige Jude, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sein Leben verlor. Nicht nur in München zogen damals braune Mobs plündernd und brandschatzend durch die Straßen.
Die NS-Führung duldete die bis dahin schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen seit dem Mittelalter nicht nur – sie hatte diese angeordnet. Keine Jüdin und kein Jude sollte sicher sein. Vor allem SA und SS schlugen Juden zusammen oder verschleppten diese in Konzentrationslager. Und auch so mancher Nachbar wurde plötzlich zum Feind im eigenen Hinterhof.
Über 1.200 Synagogen wurden beschädigt oder komplett zerstört
An den Plünderungen jüdischen Eigentums nach den Übergriffen beteiligten sich auch Tausende Deutsche, die keine glühenden Nazis waren. Der US-amerikanische Historiker Alan Steinweis hat intensiv zu den lange Zeit als "Reichskristallnacht" verharmlosten Pogromen geforscht. Der Geschichtsprofessor, der auch in München gelehrt hat, konstatierte schon vor Jahren: "Auch wenn sich wohl nur eine Minderheit der Deutschen aktiv an dem Pogrom beteiligte, war diese Minderheit doch bedeutend größer als oftmals angenommen."
Bei den antisemitischen Exzessen wurden über 1.200 Synagogen beschädigt oder zerstört. Reichsweit zerstörte der Mob mehr als 7.000 Geschäfte. Unmittelbar wurden während der Reichspogromnacht nach offizieller NS-Bilanz 91 Menschen ermordet. Die Gesamtzahl der Todesopfer dürfte jedoch weit größer sein. Schätzungen gehen von über 1.000 Opfern aus.

Gut 1.000 Münchner ins KZ-Dachau gebracht
Von den mehr als 30.000 damals in Konzentrationslagern inhaftierten Juden starben nicht wenige durch die brutale Behandlung oder wurden hingerichtet. Auch Hans Schloß wurde nach Dachau verschleppt. Der 37-jährige Betreiber eines Metallwarengroßhandels und Student der Musik war einer von gut 1.000 Münchnern, die man in das bei München gelegene KZ brachte. Der Häftling mit der Nummer 21.152 wurde gefoltert, die NS-Schergen verweigerten ihm das dringend nötige Insulin – er starb.

Nach der Nachricht vom Tod ihres geliebten Sohns nahm sich seine Mutter Cornelia das Leben. Aufgrund der massiven psychischen Belastung sowie zunehmenden Diskriminierung stieg die Selbstmordrate nach den November-Pogromen unter der jüdischen Bevölkerung signifikant. 1938 bezifferten die NS-Behörden die Zahl der Suizide in München auf 33. Zum Vergleich: 1934 waren es nur zwei gewesen. Mehr als jeder zehnte Selbstmörder hatte im Jahr der Reichspogromnacht jüdische Abstammung.
"Nationalsozialisten wollten das jüdische Leben auch in München auslöschen"
An vielen Ecken der bayerischen Landeshauptstadt tobte am Abend des 9. Novembers und in der darauffolgenden Nacht der braune Mob. Randalierer plünderten die jüdischen Altenheime in der Kaulbach- und Mathildenstraße, SA-Schergen zündeten die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße an. Ein erst einige Jahre zuvor erbautes jüdische Gotteshaus in der Reichenbachstraße wurde verwüstet. "Die Nationalsozialisten wollten das jüdische Leben auch in München auslöschen", sagt Daniel Baumann, Leiter des Stadtarchivs.
Es gab aber auch Deutsche, die sich der braunen Mörderbande entgegenstellten. So hatten durch den Lärm der klirrenden Glasscheiben aufgeschreckte Anwohner die Randalierer vor dem Modegeschäft der Boths zunächst vertrieben. Und in Berlin verhinderte ein mutiger Polizist die Zerstörung der Synagoge in der Oranienburger Straße.
NSDAP-Führung gedenkt im Alten Rathaus von München dem gescheiterten Hitlerputsch
Willkommener Anlass, um die Pogrome in Gang zu setzen, war der NS-Führung das Attentat auf Ernst vom Rath, einen deutschen Botschaftsmitarbeiter in Paris. Der 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan hatte auf diesen am 7. November 1938 geschossen. Rath starb zwei Tage später in einer Klinik.
Bereits am 7. und 8. November kam es in mehreren deutschen Städten zu massiven antijüdischen Übergriffen. Am 9. November versammelte sich die NSDAP-Führung im Alten Rathaus in München, um dem gescheiterten Hitlerputsch von 1923 zu gedenken. Blutrot leuchteten die Hakenkreuzfahnen in der "Hauptstadt der Bewegung" an jenem Tag. Propagandaminister Joseph Goebbels gab den Parteiorganen und vor allem der SA das Signal, noch am selben Abend loszuschlagen.
Begleitet von einer entsprechenden Medienberichterstattung stellte das Regime den angeordneten antisemitischen Terror, von den Nazis als "Aktion gegen Juden" deklariert, als "spontanen Volkszorn" dar.
Nicht nur die Boths verloren an jenem Abend einen geliebten Menschen. In den folgenden Jahren sollten Millionen folgen.
Der 9. November war der Beginn des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte: des Holocaust.