Serie

Die progressivsten Frauen Münchens: Verspottet und zugleich bewundert

In einer neuen Serie stellt Ihnen die AZ Münchner Frauen und Orte vor, an denen sie gewirkt haben. In jeder Folge können Sie ein Rätsel lösen und am Ende sogar etwas gewinnen. Heute: das Atelier "Elvira".
von  Christina Hertel
Im September 1912 demonstrieren Frauen für das Stimmrecht. Mit dabei sind (vorne rechts) Anita Augspurg und Lyda Gustava Heymann (vorne links).
Im September 1912 demonstrieren Frauen für das Stimmrecht. Mit dabei sind (vorne rechts) Anita Augspurg und Lyda Gustava Heymann (vorne links). © Stadtarchiv

München - Überwachungskameras, ein hoher, grauer Metallzaun, ein Mann in Uniform, der bittet, keine Fotos zu machen. Nichts erinnert daran, dass hier beim Englischen Garten vor über 130 Jahren die wohl progressivsten Frauen Münchens wohnten – hinter der damals berühmtesten Fassade der Stadt.

Die ersten Berufsfotografinnen Deutschlands leben in München

Heute stehen wir vor dem amerikanischen Generalkonsulat, einem sachlichen Bürogebäude, gleich beim Englischen Garten. 1887 eröffnete Sophia Goudstikker mit ihrer Lebensgefährtin Anita Augspurg hier das Fotoatelier "Elvira", damals ein Modename.

Die beiden Frauen gelten als die ersten Berufsfotografinnen Deutschlands. Gleichzeitig waren sie Frauenrechtlerinnen, Feministinnen und Unternehmerinnen.

Die Münchner tuschelten über die beiden, weil sie als gleichgeschlechtliches Paar zusammenlebten, weil sie mit kurzem Haar durch den Englischen Garten radelten und im Herrensattel durch den Park ritten. Augspurg war noch dazu acht Jahre älter. Die Historikerin Ingvild Richardsen hat über die beiden Frauen mehrere Bücher und Texte verfasst.

Atelier Elvira auch als "Drachenburg" bekannt

Ebenso viel Aufmerksamkeit zog ihr Atelier an der Von-der-Tann-Straße 15 auf sich: Das Haus trug den Spitznamen "Drachenburg". Denn ein 13 Meter breites und sieben Meter hohes Drachenrelief zierte die Wand. Die Ornamente waren violett und türkisfarben, die Fassade meeresgrün, alles schnörkelig und verspielt, ganz im Jugendstil.

Die Fassade des Fotoateliers "Elvira" trug zu seiner Bekanntheit bei. Heute ist das Gebäude längst abgerissen.
Die Fassade des Fotoateliers "Elvira" trug zu seiner Bekanntheit bei. Heute ist das Gebäude längst abgerissen. © Stadtarchiv

Sophia Goudstikker wird zur "Königlich Bayerischen Hofphotographin" ernannt

Die Münchner sollen gespottet haben, dass alle, die an dem Haus beteiligt waren, spinnen. Gleichzeitig waren die Menschen von den beiden Frauen und ihrem Atelier fasziniert. Es galt als chic, sich von ihnen ablichten zu lassen.

Viele berühmte Künstler und Wissenschaftler, sogar Adelige, Hof- und Staatsbeamte kamen für ihre Porträtaufnahmen in die Von-der-Tann-Straße. Sophia Goudstikker wurde schließlich zur "Königlich Bayerischen Hofphotographin" ernannt. Es war das erste Mal in Bayern, dass eine Frau diesen Titel erhielt. Seitdem durfte sich das Elvira "Hofatelier" nennen.

Sophia Goudstikker.
Sophia Goudstikker. © Privatarchiv von Ingvild Richardsen und Christoph Sauter

München war damals vom Ruf spießig zu sein, weit entfernt. Sophia Goudstikker und Anita Augspurg hatten bewusst beschlossen, gemeinsam nach München zu ziehen. Die Stadt gehörte zu den ersten Kunstmetropolen Europas. Anders als im "standesbewussten Norden" habe in München "ein lässiges, gefälliges Nebeneinander, ein augenzudrückendes Gehen- und Gewährenlassen geherrscht", schrieb der Schriftsteller Max Halbe, den es damals auch nach München zog.

Atelier Elvira gilt bis heute als Keimzelle der Emanzipationsbewegung in Bayern

Kennengelernt hatten sich Sophia Goudstikker und Anita Augspurg in Dresden. Goudstikker, die in Rotterdam in einer Kunsthändlerfamilie zur Welt kam, machte dort mit Anfang 20 eine Ausbildung zur Malerin – bei einer Schwester von Anita Augspurg. Später lernten sie gemeinsam das Fotografieren, damals eine recht neue Kunst, von der sich die beiden erhofften, finanziell unabhängig zu werden.

Doch nur drei Jahre nachdem sie gemeinsam nach München gezogen waren, trennten sich die Frauen. Goudstikker führte das Atelier zuerst alleine, dann mit ihrer nächsten Partnerin.

Das Atelier Elvira gilt bis heute als Keimzelle der Emanzipationsbewegung in Bayern. Goudstikker zeigte Frauen in modernen Rollen – als Schriftstellerin, Schauspielerin, Wissenschaftlerin oder Künstlerin. In ihrem Verein für Fraueninteressen führt Goudstikker eine Rechtsberatung ein. Ab 1908 wurde sie als erste Rechtsanwältin Münchens zugelassen. Mit Ende 50 starb sie.

1944 zerstören Bomben das Gebäude mit dem Atelier Elvira 

Das Fotoatelier am Englischen Garten hatte sie da bereits aufgegeben. Sie hatte es an eine Fotografin verpachtet, um sich stärker der Frauenbewegung zu widmen.

Doch nach dem Ersten Weltkrieg blieb die Kundschaft aus. 1933 wurde dort eine SA-Einheit einquartiert. Als Hitler gegenüber das "Haus der Deutschen Kunst" baute, ließ er das Drachenornament abschlagen. 1944 zerstörten Bomben das Gebäude. Nach dem Krieg überließ der Freistaat das Grundstück den Amerikanern, damit sie hier ihr Konsulat errichten konnten.

Für mehr Informationen zum Atelier Elvira empfiehlt sich das Buch "Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen. Wie Frauen die Welt veränderten" von Ingvild Richardsen.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.