"Die müden Blicke vergesse ich nie" - Maria Els erinnert sich an Flüchtlingsherbst
München - Eltern mit Babys auf dem Arm und Kleinkindern an der Hand, unbegleitete Flüchtlinge, Erwachsene ohne Gepäck - nur mit einer Plastiktüte in der Hand. Tausende Menschen kamen im Herbst 2015 Tag für Tag am Hauptbahnhof an, wussten nicht wohin, waren auf Hilfe angewiesen. Alle brauchten einen Platz zum Schlafen, die Kleinsten erst einmal einfach nur Windeln. Das alles auf die Beine zu stellen, war eine Herkulesaufgabe für die Behörden und alle Helfer. Eine Schlüsselfunktion hatte die Regierung von Oberbayern. Drei Mal am Tag tagte der Krisenstab. Die AZ sprach mit Präsidentin Maria Els.
AZ: Frau Els, wenn Sie an den Herbst 2015 zurückdenken, was fällt Ihnen als Erstes ein?
MARIA ELS: Ich erinnere mich sehr gut an die schier nicht endenden Ströme von Flüchtlingen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern, Babys, ältere Menschen. Es war ungewöhnlich heiß an diesen Spätsommertagen. Es mussten deshalb auf die Schnelle Versorgungszelte eingerichtet werden, um die Ankommenden mit Getränken und Essen zu versorgen. Auch medizinische Erstbetreuung war notwendig. Am Starnberger Flügelbahnhof haben wir eilig eine Registrierstelle aufgebaut. Unterbringung, Versorgung, Betreuung, medizinische Hilfeleistung in bisher nicht vorstellbarem Umfang war zu organisieren. Das erforderte ein intensives Zusammenwirken Vieler - staatlicher und kommunaler Stellen, Polizei, Hilfsorganisationen, medizinischer Dienste und schließlich half auch die Bundeswehr. Bis heute bin ich beeindruckt von dem so selbstverständlichen Zupacken. Es gab keine Bitten, die ohne Resonanz blieben, jeder brachte seine Expertise ein und wusste, was zu tun war. So gelang es zum Beispiel an einem Samstag, in einer unglaublichen engagierten Aktion, innerhalb weniger Stunden zwei Messehallen für die Aufnahme von Asylbewerbern herzurichten und dazu Feldbetten aus ganz Bayern herbei zu schaffen. Auch Landräte und Oberbürgermeister hatten oft nur einige Stunden Zeit, um benötigte Unterkunftsplätze zu schaffen. Wirklich planbar war nichts mehr. Wir haben auf ständig wechselnde Anforderungen reagiert, so gut es eben ging.
Els: "Ich fragte mich oft, was in den Menschen vorgeht"
Waren Sie auch selbst am Hauptbahnhof oder in einer Flüchtlingsunterkunft?
Der damalige Regierungspräsident Hillenbrand und ich waren ständig unterwegs zwischen Dienststelle, Hauptbahnhof, Ankunftszentrum und diversen Unterkünften.
Was ging da in Ihnen vor?
Natürlich stand die Erfüllung unserer Aufgaben im Vordergrund, aber ich fragte mich oft, was in den Menschen vorgeht, wenn sie aus den Zügen ausstiegen oder geduldig auf die Zuteilung eines Bettes warteten, welche Erwartungen und Hoffnungen sie mitbringen und was sich davon erfüllen wird.

Haben Sie eine persönliche Erfahrung mit einem Asylsuchenden?
Einige, aber besonders berührt haben mich viele Kinder, die an der Hand ihrer Eltern die Bahnsteige entlang kamen. Die müden und schüchternen Blicke werde ich nicht vergessen.
Eine entscheidende Aufgabe war, die Menschen unterzubringen. Was für Gebäude wurden alles genutzt?
Neben Turnhallen, Traglufthallen, Gewerbeimmobilien und leerstehenden Kasernengebäuden wurden auch Wohncontainer und selbst Zelte für eine vorübergehende Unterbringung genutzt. Die Landeshauptstadt München stellte beispielsweise das Jugendzeltlager Kapuzinerhölzl zur Verfügung und richtete eine provisorische Unterkunft im Olympia-Radsportstadion ein.
Els: "Insgesamt wurden 65 Gemeinschaftsunterkünfte neu eröffnet"
Wie viele Unterkünfte sind in der Folgezeit gebaut worden?
Seit 2015 hat die Regierung von Oberbayern insgesamt 65 Gemeinschaftsunterkünfte neu eröffnet. Davon wurden 22 neu gebaut. Die übrigen entstanden im Wesentlichen durch Anmietungen oder Vergrößerung bereits bestehender Objekte.
Stehen davon heute viele leer?
Leer stehen Unterkünfte allenfalls vorübergehend für Umbau- und Sanierungsmaßnahmen. Im Bereich des ANKER Oberbayern, also der Aufnahmeeinrichtung, sind derzeit etwa die Hälfte der gut 4200 Bettenplätze belegt. Neben den sinkenden Zugangszahlen spielt hier auch die Corona-Pandemie eine Rolle. So ist derzeit eine aufgelockerte Belegung möglich. In der Anschlussunterbringung sind wir voll ausgelastet. Unsere 88 Gemeinschaftsunterkünfte sind zu 84 Prozent ausgelastet. Die weit über 1000 dezentralen Unterkünfte, die von den Kreisverwaltungsbehörden betrieben werden, sind zu rund 76 Prozent ausgelastet.

Els: " Es war eine der aufregendsten und erfahrungsreichsten Phasen meines Berufslebens"
Damals hieß es, dass den Geflüchteten Wertgegenstände und Geld abgenommen würden. Ist das geschehen? Wie hoch ist der Wert - und was geschah damit?
Der damaligen Rechtslage entsprechend wurden über einen Schonbetrag von 750 Euro pro Person hinausgehende mitgeführte Geldbeträge verwahrt und an die Aufnahmeeinrichtung weitergeleitet, die für die Durchführung des Asylverfahrens der Betroffenen zuständig war. Dies ist erfolgt zur Beteiligung an den staatlichen Kosten für die Unterbringung.
Welche Bedeutung hatten diese Wochen für Ihr Berufsleben?
Sie waren eine der aufregendsten und erfahrungsreichsten Phasen meines Berufslebens, letztlich auch eine persönliche Bewährungsprobe. Sie bedeuten mir auch deshalb so viel, weil ich erfahren konnte, wie schnell sich Engagement, Kompetenz und eine Portion Pragmatismus der verschiedenen Akteure bündelten, als es darauf ankam.
(Das Interview wurde schriftlich geführt)