Interview

"Die KZ-Gedenkstätte ist schließlich auch ein Friedhof": Was die Leiterin in Dachau nicht will

Am Sonntag wird zum 79. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau gefeiert. In der AZ spricht die Leiterin der Gedenkstätte über die größte Umgestaltung seit Jahrzehnten, die letzten Zeitzeugen – und Gedenken in München.
von  Felix Müller
"Wir können zeigen, wie Ausgrenzung funktioniert": Gabriele Hammermann beim Besuch der AZ in einer der Baracken des ehemaligen Lagers.
"Wir können zeigen, wie Ausgrenzung funktioniert": Gabriele Hammermann beim Besuch der AZ in einer der Baracken des ehemaligen Lagers. © Sigi Müller

Dachau - Am Sonntag wird die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau gefeiert. Die AZ hat Gabriele Hammermann, die Leiterin der Gedenkstätte, zu einem Interview getroffen. 

AZ: Frau Hammermann, wenn ich mich hier in der Gedenkstätte umschaue, sehe ich Schulklassen und vereinzelt ausländische Touristen. Schaffen Sie es nicht, die normalen Münchner zu erreichen – oder ist das gar nicht Ihr Ziel?

GABRIELE HAMMERMANN: Mein Eindruck ist ein anderer: Wir erreichen die Münchner durchaus. Es gibt keine Barriere zwischen Dachau und München. Wir haben Kooperationen mit dem Kulturreferat, mit dem NS-Dokumentationszentrum. Und es kommen viele Besucherinnen und Besucher auch aus der Stadt, etwa zu unseren Veranstaltungen, bei denen oft bis zu 200 Leute sind. Das Interesse ist da.

Gabriele Hammermann im Gespräch mit AZ-Lokalchef Felix Müller in der KZ-Gedenkstätte Dachau.  Fotos: Sigi Müller
Gabriele Hammermann im Gespräch mit AZ-Lokalchef Felix Müller in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Fotos: Sigi Müller © Sigi Müller

Die Unions-Bundestagsfraktion will Gedenkstättenbesuche für Schüler verpflichtend machen, so, wie es in Bayern teils schon der Fall ist. Eine gute, eine sinnvolle Idee?
Die Gedenkstätten sehen das eher kritisch. Um einen Lerneffekt zu erreichen, sollten Besuche an KZ-Gedenkstätten auf so freiwilliger Basis wie möglich erfolgen. Es ist nicht entscheidend, dass jeder hier mal war – sondern, dass jeder einzelne Besuch sehr gut vor- und nachbereitet ist. Es wäre wünschenswert, wenn Schulklassen nicht nur für kurzzeitpädagogische Rundgänge kämen, sondern vermehrt längere Bildungsprogramme buchen könnten, bei denen sich intensiver mit der NS-Zeit und den jeweiligen historischen Orten auseinandergesetzt werden kann. Deshalb brauchen wir hier mehr Bildungs- und Seminarräume.

"Keine politische Bühne": Was Gabrielle Hammermann in der Gedenkstätte nicht haben will

Welche Rolle für Ihre Arbeit hier hat die Debatte um das Aiwanger-Flugblatt gespielt?
Ich habe das Flugblatt historisch eingeordnet, das war das eine. Das andere war, dass es den Reflex gab, einen Gedenkstätten-Besuch von Herrn Aiwanger im Landtagswahlkampf für eine gute Idee zu halten.

Sie fanden die Idee weniger gut?
Ja. Dieser Ort sollte keine politische Bühne sein. Die Gedenkstätte ist schließlich auch ein Friedhof.

Es leben nur noch sehr, sehr wenige ehemalige Häftlinge, noch weniger können noch berichten. Jahrzehntelang sind hier junge Menschen mit Zeitzeugen zusammengetroffen. Was bedeutet es, wenn das nicht mehr möglich ist?
Zunächst einmal ist es nicht so, dass alle Jugendlichen, die hierhergekommen sind, in der Vergangenheit die Möglichkeit hatten, mit Zeitzeugen zu sprechen. Am meisten war das in den 70er- und 80er-Jahren der Fall, als hier viele ehemals politische Häftlinge aktiv waren.

Und heute?
Aktuell ist es vor allem noch Abba Naor, der mittlerweile 96 Jahre alt ist, in Israel lebt, aber mehrere Monate im Jahr hier in Dachau oder in bayerischen Schulen von seinem Schicksal berichtet. Das ist weiter sehr wichtig für uns. Aber nur noch ganz wenige Zeitzeugen sind dazu noch in der Lage.

"Migranten ohne Interesse? Das ist überhaupt nicht der Fall"

Was bedeutet das für die Ausstellung?
Wir legen großen Wert darauf, biografische Zeugnisse in den Mittelpunkt der Ausstellung zu stellen. Wir haben über Jahrzehnte Zeitzeugenberichte in unserem Archiv gesammelt, das ist gewissermaßen das Herz unserer Gedenkstätte. Auch auf Basis all dieser Berichte sowie neuer Forschungsergebnisse, Vermittlungsformen und neuer Medien wird unsere Ausstellung in den nächsten Jahren deutlich überarbeitet.

Wenn heute die Münchner Schulklassen zu Ihnen kommen, hat nur noch eine Minderheit der Schüler nur deutsche Vorfahren. Macht das Ihre Arbeit in der Gedenkstätte komplexer oder gar einfacher?
Man kann das nicht so gegeneinanderstellen: die Nachkommen von deutschen Tätern und Mitläufern auf der einen Seite und die Nachkommen von Migranten auf der anderen Seite. Diese Argumentation führt ja oft dahin, zu glauben, dass die Migranten kein Interesse für das Thema aufbringen würden. Das ist in der praktischen Arbeit aber überhaupt nicht der Fall.

Inwiefern?
Hier an diesem Ort kommen so viele in die Diskussion – über Fluchterfahrung, über Kriegserfahrung; es gibt ganz viele Bezugspunkte zu der Geschichte dieses Ortes. Wie Ausgrenzung funktioniert, wie fragil Demokratie sein kann, all das können wir hier zeigen. Und das ist für alle hoch aktuell.

In den letzten Monaten war viel von einem Rechtsruck die Rede. Was kommt davon an diesem Ort an: Gibt es mehr Vandalismus oder rechtsradikale Provokationen – oder umgekehrt sogar mehr Interesse von Menschen, die sich mit der Geschichte auseinandersetzen oder ehrenamtlich einbringen wollen?
Das Interesse ist auf jeden Fall größer geworden, an ehrenamtlichem Engagement, an Praktika. Andererseits: Der sogenannte Volkslehrer Nerling (ein rechtsradikaler Videoblogger, d. Red.) hat hier eine Schülergruppe angesprochen, sie solle nicht glauben, was man ihnen hier erzählt. Er ist des Geländes verwiesen worden, später haben wir da in einem Prozess in wesentlichen Punkten Recht bekommen.

Gabriele Hammermann: "Ja, wir planen die größte Veränderung seit Jahrzehnten"

Und abgesehen von solchen Einzelfällen?
Insgesamt spüren wir definitiv eine größere Aggressivität, vieles verlagert sich aber in den digitalen Raum. Corona-Maßnahmen wurden immer wieder mit faschistischer Politik gleichgesetzt.

Deshalb hat die Stiftung Bayerische Gedenkstätten eine Mitarbeiterin entlassen, ein Gericht hat Ihnen da eben Recht gegeben.
Ja. Aber man muss eben auch sagen, dass das positive Interesse an der Gedenkstätte auch sehr gewachsen ist. Unsere Besucherzahlen sind in wenigen Jahren von 600.000 auf fast eine Million gestiegen. Deshalb braucht die Gedenkstätte auch ein größeres Raum- und Veranstaltungsangebot. Das war ein wesentliches Argument, die Gedenkstätte umfassend neu zu gestalten.

Warum ist eine Neugestaltung noch nötig?
Die bestehenden Ausstellungen sind alle mindestens 20 Jahre alt. Sie sind didaktisch überholt, auch von der Gestaltung her. Und wir müssen neue Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft einbringen. Wir wollen auch die Weigerung der Deutschen, sich in der Nachkriegszeit mit diesen Verbrechen auseinanderzusetzen, stärker einbringen. Und: In einem späteren Schritt wollen wir auch weitere Gebäude in die Gedenkstätte integrieren.

Sie soll also größer werden? Was käme denn neu hinzu?
Zum Beispiel die Lagerkommandantur, die heute von der bayerischen Bereitschaftspolizei genutzt wird. Da haben wir eine Zusage von Innenminister Joachim Herrmann aus dem Jahr 2021. Wir wollen Gebäude integrieren, die für das erste Lager stehen, mit denen wir auch die Geschichten der ersten Häftlinge besser erzählen können, den Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, die 1933 hier waren. Und wir wollen gerne die ehemaligen SS-Versuchsgüter integrieren.

Was hat es damit auf sich?
Das war das gefürchtetste Arbeitskommando, die Häftlinge sprachen von der "Plantage", weil dort sklavenartige Bedingungen herrschten. In dem "Kräutergarten" wurden anthroposophische Anbauweisen und biologisch-dynamischer Landbau getestet. In anderen Konzentrationslagern wie Auschwitz oder Ravensbrück gab es ähnliche Versuchsgüter. Wir wollen neue Angebote schaffen, so dass sich Besucherinnen und Besucher auch mit diesem Aspekt der Geschichte befassen können.

"Sicherheit? Es könnte mehr Videoüberwachung geben"

Planen Sie hier die größte Veränderung der Gedenkstätte seit Jahrzehnten?
Ja! Wir haben riesige Herausforderungen, die Gedenkstätte ist ein großes Flächendenkmal, das es zu erhalten gilt. Die Gebäude sind nicht für die Dauer gebaut worden. Die rekonstruierten Baracken müssen inzwischen bei Sturm, Schnee oder starkem Regen aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Die Mittel, die wir jetzt von Freistaat und Bund bekommen, sind die größten, die es in der Geschichte der Gedenkstätte je gab.

Was ist mit Sicherheitsvorkehrungen? Müssten Sie da eigentlich aufrüsten – aber es ist symbolisch schwierig, weil Sie an diesem Ort weder sichtbare Sicherheitsleute an jeder Ecke noch Videokameras von ehemaligen KZ-Wachtürmen herunter wollen?
Bei der letzten Neugestaltung von 1995 bis 2003 hat man den historischen Weg zum Lager wieder geöffnet. Diese Offenheit zeigt sich auch architektonisch. Nun müssen wir, gerade wenn die Flächen nochmal erweitert werden, neu über Sicherheit sprechen. Wir planen mit einer Gepäckabgabe, mit mehr Sicherheit auf dem Gelände, es könnte auch mehr Videoüberwachung geben. Aber: Die Sicherheitsbehörden signalisieren uns, dass die Sicherheitslage sich nicht grundsätzlich verändert hat.

Noch mal zurück zum gesellschaftlichen Rechtsruck. Wie besorgt ist die internationale Gemeinschaft der ehemaligen Häftlinge über die Situation in Deutschland?
Sehr. Das wird ganz kritisch beobachtet. Wir sprechen beinahe täglich mit Vertretern des internationalen Dachau-Komitees.

"Ukrainer und Russen gedenken getrennt"

Sind dort inzwischen die meisten Töchter und Söhne von Überlebenden?
Ja. Die meisten sind im Moment Söhne und Töchter von ehemaligen Häftlingen. Im Internationalen Dachau-Komitee sind Mitglieder aus über 20 Ländern vertreten. Natürlich möchten sich auch spätere Generationen an der Erinnerungsarbeit beteiligen. Es gibt weiter ein großes Interesse aus den Familien, auch daran, sich jetzt an der Neugestaltung zu beteiligen.

Mit dem Ukraine-Krieg haben Hochschulen ihre Kontakte, Städte ihre Partnerschaften nach Russland auf Eis gelegt. Hier in Hebertshausen wurden 4000 sowjetische Kriegsgefangene erschossen, auch das gehört zur Geschichte des KZ Dachau. Müssen bei Ihnen russische Gäste und Institutionen nicht immer selbstverständlich sein?
Wir haben schon bei der Eröffnung des Gedenkorts in Hebertshausen 2014 gemerkt, dass es große Spannungen zwischen den verschiedenen diplomatischen Vertretungen gab. Heute ist Hebertshausen leider – zumindest, was die Repräsentanz der Staaten angeht - ein Beispiel für segregiertes Gedenken.

Was bedeutet das?
Ukrainer und Russen gedenken getrennt.

Aber Sie kooperieren noch mit russischen Einrichtungen?
Selbstverständlich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Unser "Ort der Namen" wird in diesem Jahr weiter ergänzt. Und das ist nur durch Kooperationen mit Archiven und Internetplattformen möglich, auf denen wir Kontakte mit Nachkommen der Ermordeten knüpfen. Bei der diesjährigen Befreiungsfeier legt die Gedenkstätte zum Gedenken an die russischen Opfer Kränze ohne nationale Hoheitszeichen nieder. In der russisch-orthodoxen Kapelle findet ein Gottesdienst statt.

Zurück zu den Münchnern und der Frage, wie Sie die ansprechen können. Wäre nicht wichtig, die Außenlager des KZs in der Stadt sichtbarer zu machen?
Doch, auf jeden Fall. 2020 bis 2022 haben wir in der Gedenkstätte die Sonderausstellung "Zeitspuren. Der KZ-Außenlagerkomplex Allach" gezeigt. Da haben wir gemerkt, wie wichtig vielen Münchnerinnen und Münchnern das Thema der Außenlager ist und dass wir so auch die Verbindungen zwischen Dachau und München besser zeigen können.

Diese Woche findet hier in der Gedenkstätte die 79. Befreiungsfeier statt, vor wenigen Jahren waren noch sehr viele Überlebende und US-Soldaten dabei. Womit rechnen Sie heuer?
Wir freuen uns auf sieben Überlebende. Ich hoffe sehr, dass sie wirklich alle kommen können.

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