Die Jungfrau mit der Bombe: Ein Interview mit einem Ex-Terroristen

Belfast ist seine Heimat - die IRA seine Vergangenheit: Joe Doherty ging während des Nordirland-Konflikts zur katholischen Untergrundorganisation, bekämpfte Protestanten und die Briten, baute Bomben und tötete. Heute ist der ehemalige Terrorist Jugendarbeiter und kämpft gegen Gewalt – in Belfast und in München
von  Abendzeitung

MÜNCHEN - Belfast ist seine Heimat - die IRA seine Vergangenheit: Joe Doherty ging während des Nordirland-Konflikts zur katholischen Untergrundorganisation, bekämpfte Protestanten und die Briten, baute Bomben und tötete. Heute ist der ehemalige Terrorist Jugendarbeiter und kämpft gegen Gewalt – in Belfast und in München

Joe Doherty lässt sein mokkabraunes Cordsakko an, sein Schal windet sich um den dicken Nacken und fließt über seine breiten Schultern. Zivil und elegant – so steht der 54-Jährige im Gasteig und betrachtet Fotos der Ausstellung „Peace Counts“ über weltweite Friedensprojekte.

Vor 37 Jahren war Doherty der Feind des Friedens. Er tötete für die Irisch-Republikanische Armee IRA im nordirischen Belfast. Seit rund zehn Jahren kümmert er sich dort um junge Rowdys – und kämpft heute für den Frieden.

AZ: 1971 wurden Sie Mitglied der IRA. Waren Sie Terrorist oder Friedenskämpfer?

JOE DOHERTY: Ich war Verteidiger meiner Gemeinschaft. Ich war Soldat. Die Briten verweigerten uns Rechte und Wahlen. Sie diskriminierten uns.

Wie lebten Sie in Belfast?

Wie Menschen zweiter Klasse. Wir durften nicht wählen. Mein Vater bekam keinen Job in den Werften. In der Nähe unseres Hauses war eine Fabrik mit 12 000 Arbeitern, aber ich kenne keinen von uns, der dort arbeiten durfte. Wir lebten wie im Ghetto. Viele wurden verhaftet. Als ich 14 war, stürmten Soldaten unser Haus. Um vier Uhr in der Früh traten sie die Tür ein. Sie warfen meinen Vater und mich zu Boden. Ein Soldat hielt meiner Mutter eine Pistole an den Kopf und zog sie an den Haaren hinunter – sie hatte kaum etwas an.

"Die Kinder in Gaza heute - das war ich, damals"

Gingen Sie deshalb zur IRA?

Zuerst versuchten wir es friedlich. Wir kannten die Studentenmärsche der 68er und Martin Luther Kings Kampf für die Schwarzen in den USA. Also gingen wir auch auf die Straße. Die Armee löste die Märsche mit Gewalt auf – da wählte ich den Krieg.

Sie sahen keine andere Möglichkeit?

Nein. Aber das heißt nicht, dass ich Recht hatte. Ich war eben ein Produkt meiner Zeit. Kennen Sie die Bilder der Kinder in Gaza mit Steinen in der Hand? So war ich damals. Extremismus war für mich der richtige Weg – mit 15 Jahren ging ich zur IRA.

Wie kam man denn zur IRA?

Ich kannte IRA-Mitglieder aus dem Viertel. Sie sagten mir, dass ich verhaftet oder sogar getötet werden könnte. Dann war ich dabei.

Hatten Sie keine Angst?

Schon. Aber die Abenteuerlust überwiegte – und das stolze Gefühl, meine Leute zu verteidigen.

"Ich war noch Jungfrau - und sie zeigten mir, wie man eine Bombe baut"

Wurden Sie gleich eingesetzt?

Zuerst kam ich zu den „Pfadfindern“. Wir lernten dort den Umgang mit Waffen, hielten Ausschau nach Soldaten und schmuggelten Waffen. Stellen Sie sich vor: Ich war noch Jungfrau – und sie zeigten mir, wie man eine Bombe baut! Mit 17 kam ich zur IRA.

Was hat ihre Mutter gesagt?

Ich habe es ihr nicht gesagt! Mein Vater fand es heraus. Einmal kam ich mit einem Sack Patronen nach Hause und versteckte ihn unterm Sofa – und er setzte sich genau drauf! „Was ist das?“, fragte er. Ich sagte, ich hätte es gefunden. Er brachte den Sack zur IRA und sie erzählten es ihm. Das war ein ganz mieser Tag.

Haben Ihre Eltern es Ihnen verboten?

Sie waren zwar gegen Krieg, aber sie haben mich verstanden. Natürlich hatten Sie Angst um mich.

Ausbruch aus dem Gefängnis: "So ein Tom-Cruise-Ding"

Was war Ihr erster Auftrag?

Das kann ich nicht sagen, aber ich war bei vielen Schießereien dabei. Ich habe viele getötet. Mit 17 wurde ich zum ersten Mal verhaftet, am 20. Januar 1972. Ich war sieben Monate im Jugendlager. Nach einem Waffenstillstand ließen sie mich und andere frei.

Mit 19 kamen Sie richtig ins Gefängnis. Was war da?

Die Polizei hielt mich an und ich hatte eine Bombe im Auto. Sechs Jahre war ich im Knast. 1979 kam ich raus und ging wieder zur IRA. Ich wollte unbedingt in den Krieg. An einem Tag im Mai 1980 schoss ich mit vier anderen von den Dächern aus auf britische Soldaten. Spezialkräfte, umzingelten uns, alle schossen. Dabei starb ein junger Captain. Ich kam 13 Monate ins Gefängnis.

Nur 13 Monate?

Ich bin ausgebrochen.

Wie?

Wir haben Waffen ins Gefängnis geschmuggelt.

Wie haben Sie das geschafft?

(Lächelt) Das weiß ich nicht mehr. Der Wärter kam, ich zog die Waffe, knebelte und fesselte ihn, zog seine Uniform an, setzte die Kappe auf und wir gingen hinaus und schossen herum – so ein Tom-Cruise-Ding.

Und wieder zur IRA?

Ja. Ein Jahr später floh ich nach New York.

Wie haben Sie Nordirland verlassen?

Mit einem gefälschten Pass und einem Flugzeug. Ich arbeitete in einer Bar. Das FBI brachte mich ins Gefängnis – für insgesamt 15 Jahre.

"Ich bete heute jeden Tag für diesen toten Soldaten"

1999 kamen Sie raus – kehrten diesmal aber nicht zur IRA zurück. Warum nicht?

Meine Entscheidung war schon 1987 gefallen. Ich hatte in der New York Times von einem britischen Ex-Soldaten gelesen, der von der IRA erschossen worden war. Er bestellte gerade sein Feld. Seine Tochter war bei ihm. Er starb vor ihren Augen. Früher hätte ich gedacht: Toll, noch ein toter Soldat. An jenem Tag aber dachte ich: Das ist falsch.

Heute holen Sie Jugendliche in Nord-Belfast von der Straße. Hören die jemandem wie Ihnen eher zu? Oder ist Ihre Vergangenheit ein Problem?

Sie kennen mich alle: Ich bin Joe von der IRA. Für manche bin ich ein Held. Ich aber sage ihnen immer: Ihr dürft mich nicht verherrlichen.

Schämen Sie sich heute?

Ich bin stolz, auf das was ich war. Die IRA ist zwar Schuld am Tod von hunderten Menschen, aber wir sind nicht von den Bäumen gefallen. Wenn Menschen angegriffen werden, wehren sie sich. Ich will aber, dass junge Menschen nicht so werden wie ich. Jeden Tag laufe ich an der Stelle vorbei, an der dieser junge Captain starb. Dann bete ich für ihn. Töten – das bringt nichts.

Interview: Thomas Gautier

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.