Die Jugend macht blau: Polizei jagt Schulschwänzer in München

Kein Bock auf Schule: In der Stadt gibt es immer mehr chronische Schwänzer. Was die Schüler stattdessen treiben – und wie die Polizei reagiert.
Ralph Hub & Felix Müller |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Lieber rumhängen als lernen: Schulschwänzen wird in München zunehmend zu einem Problem. Wenn Stühle im Klassenzimmer immer öfter frei bleiben, müssen Lehrer und Eltern eingreifen.
Caroline Seidl/Arno Burgi/dpa/AZ Lieber rumhängen als lernen: Schulschwänzen wird in München zunehmend zu einem Problem. Wenn Stühle im Klassenzimmer immer öfter frei bleiben, müssen Lehrer und Eltern eingreifen.

München - Während die einen brav im Klassenzimmer sitzen und Mathe oder Geschichte büffeln, vergnügen sich andere lieber beim McDonald’s am Stachus und surfen im Internet. Besonders die notorischen Schulschwänzer sind es, die Behörden und Polizei immer mehr zu schaffen machen.

Das zeigen verschiedene Statistiken. Zum Beispiel die über den Anstieg der Bußgeldbescheide. Wenn alle pädagogischen Maßnahmen nicht helfen, kann die Schule Anzeige gegen chronische Schulschwänzer erstatten – die letztlich zu einem Bußgeldbescheid bis 10.000 Euro führen kann. Zu zahlen von den Eltern – ab 14 Jahren blechen die Schüler selbst.

Schulschwänzer: Für Polizisten ein täglicher Anblick

2014 erstatteten die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in der Stadt 2.437 Anzeigen – es folgten 1.962 Bußgeldbescheide. 2015 stiegen diese Zahlen an – und 2016 wieder: Es ergingen 2.956 Anzeigen, 2.375 Bußgeldbescheide wurden versandt. Ein deutlicher Anstieg.

Lesen Sie auch: Ab sofort – Kein Alkohol am Hauptbahnhof!

Für die Polizei ist es ein beinahe schon alltäglicher Anblick. Wenn ein Beamter morgens um 10 Uhr in der Spielwarenabteilung von Galeria Kaufhof am Marienplatz einen 12-Jährigen an einer Spielekonsole sieht, weiß er genau, dass der Bursche die Schule schwänzt. 77 Teenager wurden im Schuljahr 2015/16 in München von der Polizei aufgegriffen. Die meisten Schulschwänzer haben allerdings Glück. Sie werden nicht erwischt. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher, sagen Fachleute.


Beliebter Ort für Schwänzer: der McDonald's am Stachus. Foto: ho

Polizisten dürfen Kinder und Jugendliche kontrollieren, wenn sie sich an Orten herumtreiben, an denen sie zu gewissen Zeiten nichts zu suchen haben – an Bahnhöfen, in Fast-Food-Restaurants, in Kaufhäusern, Parks oder Internetcafés. "Die Zahl der Aufgriffe hat sich im Schuljahr 2015/16 um knapp 15 Prozent erhöht", betont Polizeisprecher Werner Kraus.

Mindestens einmal am Tag ruft ein Münchner Schulleiter bei der Polizei an und bittet wegen eines notorischen Schulschwänzers um Unterstützung. 364 Mal war das im Schuljahr 2015/16 der Fall, so die aktuellen Zahlen des Präsidiums. Doch bevor ein schulmüder Teenager morgens von einem Polizisten aus dem Bett geholt wird, müssen alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sein: Elterngespräche, schriftliche Mitteilungen, Verweise oder Ähnliches. In der Regel sind auch Schulamt und Jugendsozialarbeiter eingeschaltet.

Manchmal sind Eltern so verzweifelt, dass sie die Polizei einschalten

Erst am Ende, wenn alles andere nichts gebracht hat, wird die nächstgelegene Polizeiinspektion (PI) eingeschaltet. "Anders würde es auch nicht funktionieren", sagt Andreas Ruch, Vize-Chef der Polizeiinspektion (PI) Germering, "schließlich sind wir kein Taxidienst."

Meist ist es der Jugendbeamte der jeweiligen PI, der sich um Schulschwänzer kümmert. Jugendbeamte haben Erfahrung mit pubertierenden Teenagern. "Wir wissen, wie wir an sie herankommen", erzählt einer, "Und wir kennen die familiären Hintergründe, die Probleme der Jugendlichen."

Lesen Sie auch: Sendlinger-Straße – Anwohner-Wut auf die Stadt

Manchmal erwischt es aber auch eine ganz normale Streife, die einen Schulschwänzer aus dem Bett klingeln soll. "Notorischen Schulschwänzern kann man so ziemlich Dampf machen", erzählt eine Lehrerin aus dem Münchner Osten.

Nicht ganz so euphorisch klingen dagegen Polizisten, die das schon mitgemacht haben: "Es gibt Jugendliche, die fühlen sich als ,King’, wenn sie im Streifenwagen aufs Schulgelände chauffiert werden. Das ist für sie quasi der Ritterschlag in ihrer Clique."

Die Eltern der Jugendlichen reagierten meist positiv auf Hilfe. Meist sind sie mit ihrem Nachwuchs hoffnungslos überfordert und froh, dass Schule und Polizei die Augen offen gehalten haben. Im Münchner Westen gab es sogar einen Fall, in dem eine Mutter völlig entnervt bei einer PI anrief und die Beamten regelrecht anflehte, sie mögen doch bitte ihre 16-jährige Tochter abholen. Sie selbst wisse einfach nicht mehr weiter und sei mit ihren Kräften am Ende.


AZ-Interview: "Ein Hilfeschrei"

Wie die Chefin des Lehrerverbands das Schwänzen erklärt – und was sie jetzt fordert.


Simone Fleischmann ist Chefin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes. Foto: Jan Roeder/BLLV/dpa

Simone Fleischmann (46) war Rektorin einer Mittelschule in Poing. Die heutige Präsidentin des Bayerischen Lehrerverbands setzt sich für moderne Lern- und Unterrichtsmethoden ein.

AZ: Frau Fleischmann, wann wird besonders viel geschwänzt?
SIMONE FLEISCHMANN: Wenn der Leistungsdruck hoch ist, zu Prüfungszeiten zum Beispiel.

Die gab es früher auch.
Aber der Leistungsdruck hat zugenommen. Dazu kommt: Schwänzen ist in manchen Altersgruppen cool. Wenn die anderen in der Clique schwänzen, will man nicht der Schlappschwanz sein. Manchmal ist es einfach eine Mutprobe. Aber eine gefestigte Persönlichkeit fährt nicht mit zum Stachus. Die sagt den anderen: Ich komme nach der Schule nach.

Also sind es schwache Persönlichkeiten, die chronisch schwänzen?
Es ist immer ein Hilfeschrei. Ein Signal dafür, dass etwas nicht stimmt. Deshalb hilft es auch oft gar nichts, Verweise zu geben. Wir als Schule müssen helfen – denn oft sind es gerade Familien, in denen die Eltern nicht in der Lage sind, zu helfen. Uns aber fehlen die Schulpsychologen. Da brauchen wir mehr an den Schulen.

Wie sollte mit den Schulschwänzern umgegangen werden?
Man bestellt die Eltern ein, setzt sich zusammen hin – bei Gruppen, die oft zusammen schwänzen, auch mit mehreren Schülern. Man muss fragen: Was ist eigentlich mit dir los?

Welche Rolle spielen Eltern?
Mein Eindruck ist, dass Eltern in ihrer Autorität nicht mehr so stark auftreten wie früher. Sie nehmen ihre Kinder sehr stark in Schutz. Ich habe es als Schulleiterin immer wieder erlebt. Man ruft zu Hause an und fragt, wo der Schüler steckt. Dann hört man ein kurzes Stocken und merkt, dass die Eltern es auch nicht wissen.

Und dann?
Sagen sie, dass das Kind krank ist.

Interview: Felix Müller

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.