Die Humboldtstraße: Kebap, Krieg und Kaviar

Die Humboldtstraße wurde von einer Arme-Leute-Gegend zur Heimat für Retro-Radl  – Boazn gibt’s aber noch. Start der neuen AZ-Serie "Von der Straße".
von  Anja Perkuhn
Die Humboldstraße in Giesing.
Die Humboldstraße in Giesing. © googlemaps, ape

München - Früher, daran erinnert sich der Betreiber eines Reisebüros in der Humboldtstraße, "früher, da sagten wir in Giesing: Ich muss über die Isar, um nach München zu kommen." Heute sagt das niemand mehr, denn Giesing ist (beinahe) so münchnerisch, wie alle anderen Stadtviertel.

Man sieht das an der Humboldtstraße, die der Auftakt ist für unsere neue Serie, in der wir Straßen porträtieren – mit ihren Besonderheiten, schönen Seiten, dunklen Ecken und Abgründen und den Menschen dort.

Die Humboldtstraße trennt die Au und Untergiesing und erhebt sich mittelsanft auf den Giesinger Berg. Sie war einmal Hauptverkehrsader in einem Glasscherbenviertel, früher lebten dort die ärmeren Leute.

Die Weltkriegsbomben zerstörten auch hier vieles, darum gibt es neben Gebäuden aus der Jahrhundertwende solche aus den 50ern. In deren Ladenzeilen: eine Radlgeschäftflut. Dort stehen nicht nur schlichte Hollandräder zum Verkauf, sondern auch Elektro-Bikes und solche aus der Kategorie "Nostalgie & Retro".

In der Nacht vor dem Recherche-Besuch war die Fensterfront eines Immobilienbüros in der Straße durch Steinwürfe zerstört worden. Mit Gentrifizierung müsse das aber nicht zwingend etwas zu tun haben, sagt einer der Mitarbeiter – es gebe schließlich auch Menschen mit sozialer Einstellung, die in der Immobilienbranche arbeiten.

Die Humboldtstraße bietet auch (noch) Platz für Orte, die daran erinnern, dass dort nicht immer alles und jeder englischsprachig und hochglanzpoliert war.


Der "Kiosk Isarwahn" hat ein Vordach für (fast) alle. Foto: ape

Spitze der Humboldtstrasse – Schyrenplatz: Currywurst an der Isar

Im Schoß des Grüns an der Wittelsbacherbrücke liegt der "Kiosk Isarwahn": ein kleines Häuschen mit Holzbänken und -tischen davor und Blick auf den Fluss.

Cornelia und Gundolf Straub haben den Kiosk 2000 übernommen und wieder aufgemotzt. Nun sitzen dort ab 15 Grad plus Studenten bis Ärzte mit einer Maß und einer Currywurst – und bei spontanem Sommerregen kommen auch noch alle die unter sein Vordach, die unter der Brücke keinen Platz mehr gefunden haben.

Und wer nicht einmal mehr im "Isarwahn" unterkommt: Direkt gegenüber gibt’s noch einen Kiosk.


Das Marianum hat eine bewegte Geschichte. Foto: ape

Humboldtstraße 2: Ein Heim, das hilft

Das etwas abseits der Straßenlinie thronende gelbe Gebäude ist das "Marianum Caritas". Es beherbergt ein Wohnheim und eine Arbeitsstätte für Menschen mit Behinderung. Das Marianum wurde im Jahr 1901 fertiggestellt und diente anfangs als Ausbildungsheim für meist körperbehinderte junge Frauen, die in Handarbeiten unterrichtet wurden. Unter anderem hatte es einen Blumenbindesaal und einen Goldsticksaal.

Während der Niederschlagung der Münchner Räterepublik war das Gebäude ein Hauptquartier der Giesing stürmenden Freikorps-Soldaten. Im Zweiten Weltkrieg wurde es komplett zerstört und später neu aufgebaut. Seit 1973 hat es seinen heutigen Zweck.


Maria schenkt aus im "Giasinga Schlümpfe". Foto: ape

Humboldtstraße 12: Schnaps auf Deckchen

Zwischen den zwei Blumenläden der Straße sind die "Giasinga Schlümpfe" zuhause: eine Boazn vom Feinsten, mit einer winzigen Fensterfront, hinter der eine Dunkelholz-Kneipeneinrichtung schlummert, die Schnapsflaschen auf Zierdeckchen stehen und unter der aktuellen Betreiberin nun König Ludwig Helles ausgeschenkt wird.

Für Eiskaffee wirbt die Tafel vorm Laden – eine Absturzkneipe soll’s nicht sein, sagt Bedienung Maria, die neben der Zapfanlage steht mit einem Magneten dran: "Ich saufe nicht, ich stürze Schnäpse ins Unglück". Seit mehr als 30 Jahren gibt es die Boazn, Maria arbeitet dort seit zwei Wochen. "Hier sind verschiedene Leute", sagt sie, "und immer nett."

Weder sie noch Gast Herrmann wissen leider, was es mit den Schlümpfen auf sich hat – ist aber wahrscheinlich auch egal.


"Türkitch"-Team: Marco, Cadmus, Ibo. Foto: ape

Humboldtstraße 20: "Döner gibt’s am Bahnhof"

Die Leute stehen bis raus auf die Straße, obwohl die Mittagszeit vorbei ist: Der Kebap- und Köfte-Imbiss "Türkitch" ist knallevoll. "Zwei Döner", bestellt ein junger Mann in Flipflops und Marco hinter der Kasse schaut streng: "Wir machen hier Puten-Gemüse-Kebap – Döner machen die am Hauptbahnhof!"

Sofort ist er aber wieder locker. Maximal-entspannt ist die Stimmung im Imbiss, neben Kebap, Dürüm und Halloumi-Burgern steht auf der Karte "1 Minute Flirten: 1 Euro" (die wohl niemand je tatsächlich dafür bezahlen musste) und es läuft lauter Hip-Hop.
Die Nachfrage nach den Snacks mit appetitlichen Soßen, gegrilltem Gemüse und Minzeblättchen ist so groß, dass "Türkitch" bald eine zweite Filiale bekommt – in der Türkenstraße.


"Russischer Standard"-Inhaber Artur Baljan. Foto: ape

Humboldtstraße 23: Für russische Herzen

Die meisten kommen für Teigtaschen und Süßigkeiten, erzählt Artur Baljan, der vor Regalen steht mit Teigtaschen und Süßigkeiten – und bunten Vasen, Soljankadosen, Kaviar und Matrjoschka-Puppen. Der Laden "Russischer Standard" ist voll mit Dingen gegen Heimweh in russischen Herzen.

Baljan, 53 und gebürtiger Armenier, ist seit fünf Jahren Inhaber, das Geschäft gibt es schon seit 20 Jahren. Bevor er es übernahm, hatte Baljan es nie betreten, denn er ist extra dafür hergezogen – aus Schleswig-Holstein. "Als ich das erste Mal in München war, wusste ich sofort: Ich will hier leben", erzählt er. "Ich liebe Bayern, weil’s so schön ist." Vor allem wegen der vielen Kirchen.

Wenn er Gelegenheit dazu hat, fährt Baljan durch Bayern: "Weiter nach Süden! Ich gebe ins Navi ein ,Autobahn vermeiden’ und schaue mir die schönen Dörfer an."


"Travel a la carte"-Betreiber Frank Lippert. Foto: ape

Humboldtstraße 28: "Das Viertel ändert sich"

Frank Lippert tippt, während er spricht – viel zu tun, alle wollen noch in den Urlaub. Die Räume teilen sich zwei Reiseanbieter: Lipperts "Travel a la carte" und "Fantastischer Reisen" von Ulrich Echtermeyer. Seit 15 Jahren gibt’s das Büro – "und man merkt: Das Viertel verändert sich", sagt Lippert.

"Man merkt die Gentrifizierung schon. Die Stammkunden werden älter oder kommen gar nicht mehr. Neu sind dafür Mittdreißiger, bei denen jetzt die ersten Kinder kommen." Schön sei aber: "In vielen Gegenden sitzen die Menschen in ihren Wohnungen und sprechen nicht mehr miteinander. Hier geht das noch auf der Straße."

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