Die Chronologie der Mordnacht
München/Krailling/Peißenberg - Jetzt sind vor allem die Wissenschaftler gefragt. Die Soko Margarete ist nach dem Mord an den beiden Kraillinger Mädchen Sharon († 11) und Chiara S. († 8) nahezu fertig mit der Beweisaufnahme. Labor-Gutachten sind nun der nächste Schritt, um den Täter zu überführen und vor Gericht zu bringen. Was ist geschehen in der Nacht auf den 24. März? Stück für Stück haben die Ermittler zusammengetragen. Die AZ konstruiert daraus die Chronologie der Mordnacht.
Eine fröhliche Kulisse
Mittwoch, 23. März, 17 Uhr. Im gelben Haus in der Margaretenstraße hat die Familie S. Besuch. Anette (41), die mit ihren Töchtern Sharon (11) und Chiara (8) hier wohnt, gibt einem Buben aus der Bekanntschaft Nachhilfe in Englisch. Anette S. ist gelernte Fremdsprachen-Korrespondentin. Im ersten Stock steht ein Käfig mit Kanarienvögeln, um die sich Sharon immer liebevoll kümmert. Vor 18 Uhr wird der Bub von seinem Vater abgeholt. Der wird später sagen, dass alle einen fröhlichen Eindruck gemacht haben. Bald schließt der Schneider im Erdgeschoss seinen Laden. Dann sind Anette und ihre Töchter allein im Haus. Vom Vater der Mädchen lebt Anette S. seit langem getrennt; er ist zu dieser Zeit in Hamburg.
Gut zwei Stunden später müssen die Mädchen ins Bett. Chiara geht in die Grundschule, ihre quirlige Schwester in die sechste Klasse des Gymnasiums in Gräfelfing. Ihre Mutter möchte später noch – wie fast immer am Mittwoch – ins „Schabernack”. In der Musikkneipe findet an diesem Abend ein Quiz statt, der Musik-Award.
Die Kinder sind allein
22.30 Uhr: Anette S. verlässt ihre Wohnung. Die Kinder schlafen. Chiara liegt im Bett ihrer Mutter, ihre ältere Schwester Sharon schläft in ihrem Zimmer. Anette S. sperrt nicht ab. Die Tür lässt sich mit einem Drehknopf auch von außen öffnen. Die Mutter hat Angst, in dem alten Gebäude könnte ein Feuer ausbrechen. Bei verschlossener Haus- und Wohnungstür wären ihre Töchter dann gefangen.
Das engere Umfeld von Anette S. weiß, dass die Türen immer offen sind. Und Sharon und Chiara wissen, dass ihre Mutter häufiger abends ins „Schabernack” geht, die Musikkneipe in derselben Straße. Betreiber Klaus P. ist der Lebensgefährte von Anette S., die hier auch mal kellnert – und rasch zu Hause nach dem Rechten sehen kann, falls sich eines der Mädchen telefonisch meldet. Das ist schon vorgekommen. Zwischen Kneipe und Wohnung sind es kaum 100 Meter.
An diesem Abend sind etwa 50 Gäste da, es geht lustig zu. Um 1 Uhr ist Schluss. Die meisten gehen nach Hause. Um 1.30 Uhr verlassen die letzten Gäste die Kneipe. Anette S. bleibt diesmal länger. Ihr Lebenspartner und ein paar Freunde sitzen zusammen, trinken noch etwas.
PEISSENBERG:
Der Onkel ist wach
Auch in Peißenberg in dem halbfertigen, rosafarbenen Neubau schlafen Kinder: die von Ursula und Thomas S. Es sind die Cousine und die Cousins von Sharon und Chiara aus dem 50 Kilometer entfernten Krailling. Anette S. und Ursula S. sind Schwestern und gemeinsame Erben. Es hat schon Ärger gegeben wegen der Frage, was mit dem Erbe passieren soll. Behalten? Verkaufen? Ursula, die Ältere, und ihr Mann Thomas haben Schulden. Beim Hausbau hat sich der Postbeamte finanziell übernommen. Seine Frau war schwer krank, konnte nicht arbeiten. Auch eines der Kinder war schwer erkrankt.
In dieser Nacht hat der Familienvater angeblich gesundheitliche Probleme: Er habe Zahnschmerzen bekommen und sei aufgestanden, wird er später sagen. Ohne dass es seine Frau und die Kinder gemerkt hätten, habe er das Haus verlassen. Angeblich, um zur Arbeit ins Postamt nach Feldafing zu fahren.
2 bis 4 Uhr: In diesem Zeitraum geschieht das unfassbare Verbrechen. Ein Mörder dringt in die Kraillinger Wohnung ein, in der Chiara und Sharon schlafen. Die Ermittler sind sich sicher, dass Thomas S. die Kinder heimtückisch umgebracht hat. Womöglich aus Rache, weil es der Verwandtschaft nicht nur finanziell besser gegangen ist?
Die Polizei rekonstruiert es so: S. sei mit dem Familien-Van, einem grünmetallicfarbenen Kia Carnival, von Peißenberg nach Krailling gefahren. Nachts, wenn die Straßen frei sind, dauert das knapp eine Dreiviertelstunde.
Am Verhalten der Spürhunde, die später den Tatort abschnüffeln, wollen die Beamten erkannt haben, dass der Täter sein Fahrzeug im Bereich der Franz- und Hans-Sachs-Straße abgestellt hat. Das sind weniger gut beleuchtete Querstraßen, die von der Margaretenstraße abgehen.
Thomas S. hat Ortskenntnisse. Er sei erst vor ein paar Wochen hier gewesen, wird er später aussagen.
Wann der Täter in die Wohnung kommt, lässt sich nur vage feststellen – wie auch der Zeitpunkt, an dem die Mädchen sterben. Das Maß an Brutalität erschreckt selbst hartgesottene Kriminaler: Mit einem Steakmesser, einer Hantelstange und einem Seil werden sie umgebracht. Sharon, die Ältere, hat sich offenbar verzweifelt gewehrt gegen den übermächtigen Täter. Die Ermittler finden DNA-Spuren, nicht nur an den Tatwaffen. An einem Lichtschalter entdeckt man auch Blutspuren, die ein Gutachten Thomas S. zuweisen wird.
Wer auch immer sich später – und sei es beruflich – mit dieser Tat beschäftigt, wird von ihrer grausamen Unbegreiflichkeit erfasst.
4.45 Uhr: Anette S. macht sich mit ihrem Freund Klaus auf den Heimweg. Der Gastwirt begleitet seine Freundin bis in die Wohnung. Im ersten Stock liegt Sharon, die Elfjährige ist blutüberströmt. Die Mutter rennt zu ihrer jüngsten Tochter ins Dachgeschoss. Chiara liegt erstochen im Bett. Sie hat ein Seil um den Hals.
Der Notarzt wird alarmiert. Minuten später treffen die Helfer ein. Eine Polizistin, die als eine der ersten ankommt, leistet Erste Hilfe. Auch der Notarzt versucht, Sharon wiederzubeleben. Der Körper ist noch nicht ausgekühlt. Ein Indiz dafür, dass die Mädchen erst seit kurzem tot sind.
5.00 Uhr: Der Tatort ist abgesperrt. Die Mordkommission rückt an. Experten der Spurensicherung beginnen die Wohnung bis in jeden Winkel abzusuchen, den Tatort zu vermessen, Fasern, Blut und andere Mikrospuren zu sichern.
Zeitgleich läuft die Fahndung nach dem Täter an. Überall in Krailling sind Streifen unterwegs. Jogger und Hundebesitzer werden angesprochen. Alle werden überprüft, gefragt, ob sie etwas Verdächtiges beobachtet haben. Doch der Mörder ist verschwunden.
5.30 Uhr: Thomas S. meldet sich telefonisch vom Postamt in Feldafing bei seiner Frau. Er habe sie an ihren Arzttermin wegen der Krebsnachsorge erinnern wollen, behauptet er gegenüber seinem Anwalt.
6.07 Uhr: Sonnenaufgang. Es ist ein furchtbarer Tag, der in Krailling beginnt. Ein Polizei-Hubschrauber kreist über dem Ort. Der Lärm der Rotoren reißt viele aus dem Schlaf. Noch weiß kaum jemand von dem Verbrechen, das viele – gerade Kinder – lange in Angst versetzen wird. In Feldafing am Starnberger See, beinahe genau auf halbem Wege zwischen Krailling und Peißenberg, erscheint Thomas S. laut Zeugenaussagen an seinem Arbeitsplatz.
6.30 Uhr: Thomas S. macht sich im Postamt Feldafing bereit, die Post in seinem Zustellbezirk auszufahren. Auf seine Kollegen wirkt er wie immer. Keiner hat etwas Verdächtiges an seinem Verhalten bemerkt.
7 Uhr: Gerüchte haben die Runde gemacht. Die ersten Freunde kommen zum Tatort. Sie können nicht glauben, dass die Mädchen tot sind.
10 Uhr: Die Leichen von Sharon und Chiara werden von Mitarbeitern eines Bestattungsinstituts abgeholt und in die Rechtsmedizin nach München gebracht.
11.30 Uhr: Thomas S. fährt mit seinem Van in Starnberg zum Tanken. Eine entsprechende Quittung hebt er auf. Eine Woche später, am 1. April, wird er am Nachmittag wegen Mordverdachts in Peißenberg verhaftet.
In Krailling werden jeden Tag Blumen und Kerzen abgestellt an dem Haus, in dem die Mädchen starben. Bis heute.