Die Borstei: Klotzen statt Klötzchen
München - Damals, 1924, als der Bau der Borstei begann, waren in München noch größere Flächen frei. "Bis ins 19. Jahrhundert war die Dachauer Straße Richtung Norden geprägt von Weide- und Ackerland", sagt Manfred Heimers vom Stadtarchiv München.
Passend dazu steht an einem der Eingangstore der Borstei in Form eines Wandreliefs geschrieben: "Hier war unsere Weide". Kurz vor Baubeginn 1924 konnte man also hier auf weite Felder blicken. Klar, heute hat man deutlich seltener die Möglichkeit, in solchen Dimensionen zu planen: 70.000 Quadratmeter, 778 Wohnungen, 14 Läden, ein Café – ein eigenes Dorf.
Dass alles hat aber auch mit Schicksal zu tun. Bauunternehmer Bernhard Borst (1883-1963), Namensgeber der Borstei, wollte zunächst keine Wohnsiedlung. Er brauchte das Land als Ersatz-Lagerfläche für Baumaterial. Seine eigentliche Lagerfläche in Thalkirchen war gekündigt worden. Später wurde die Kündigung zurückgezogen, weshalb sich Borst zum Bau einer Wohnsiedlung an der Dachauer Straße entschloss.
Klotzen statt Klötzchen, war seine Devise. Nur das beste Material. Die Türen: slowenische Eiche, die massiven Wände: drei Ziegel nebeneinander, weshalb sie bis zu 60 Zentimeter breit sind, vor Kälte und Hitze schützen und auch den Krieg glimpflich trotz eines Treffers überstanden haben.
Borstei: Kunstwerke in allen Höfen
Nicht zuerst die Gebäude wurden in der Borstei errichtet. Am Anfang standen die Höfe. Dann kamen die Mehrfamilienhäuser dazu. Über die Hälfte der Wohnungen sind zehn Mal zehn Meter groß und haben Fenster auf zwei Seiten. "So hat man zu jeder Tageszeit Tageslicht", sagt Industriedesigner Andreas Rümmelein (52). Er lebt seit etwa 30 Jahren in der Borstei.
"Ich bin hier eingeheiratet", sagt er. Im Türmchen wohnt er mittlerweile. Die Borstei hat eine eigene Hausverwaltung mit festangestellten Handwerkern. Auf dem freien Markt landen die Mietwohnungen nie. Borst war ein Kunstliebhaber. Den Merkur auf der Säule kaufte er dem 1931 abgebrannten Münchner Glaspalast ab.
Borstei: Leben und feiern – miteinander

Borst wollte den sozialen Charakter der Siedlung fördern und vor allem Kindern ein Lachen ins Gesicht zaubern. Also ließ er regelmäßig das Kasperltheater auftreten. Und das wurde hier am Eingang der Dachauer Straße 140d angekündigt, hinter einem Türchen.
Am Schildchen im Türchen stand auf einem Kärtchen, wann der Kasperl auftritt.
Borstei: Verhindertes Denkmal

Dass es Bernhard Borst mit seiner Siedlung ernst meinte, zeigt auch die Tatsache, dass er hier begraben werden wollte. Die Borstei sollte nichts anderes als ein Denkmal werden. Schon zu Lebzeiten, als er selbst hier wohnte, plante er mit seiner Beerdigung in einem der Höfe. Doch die Friedhofsverordnung ließ das nicht zu.
Borst ist daher auf dem Westfriedhof beerdigt worden, gegenüber auf der anderen Seite der Dachauer Straße, hinter einer Kleingartenanlage. Die 2500 Bewohner der Borstei können dieses Andenken jederzeit besuchen. "Die Zusammensetzung der Bewohner ist multikulturell", sagt Rümmelein, "die Münchner hier haben ihre Wurzeln in 25 Nationen." Er kennt sich gut aus. Seit 2000 gibt er Borstei-Führungen.
Borstei: Einzigartig bis ins Detail
Borsts Projekt setzte Maßstäbe. Er wollte von Anfang an, dass die Borstei eine einzigartige Anlage wird. Sogar der Schriftzug der Straßennamen, Hausnummern und des Borstei-Logos wurde eigens für diesen Ort entworfen. Nirgends sonst findet man ihn in München.
Urheber des Designs ist der Grafiker Eduard Ege. Er war seinerzeit sehr berühmt. Viele Münchner kennen ihn. Er entwarf das Stadtwappen und auch das bayerische Staatswappen.
Borstei: Das Münchner Original

Na, kommt Ihnen diese Touristenattraktion bekannt vor? Richtig, es ist der Bronze-Eber, der originalgetreu am Jagd- und Fischereimuseum mitten in der Stadt steht. Tausende Touristen lassen sich jährlich mit dem Tier fotografieren. Es ist eines der beliebtesten Fotomotive der Stadt, aber nur eine Kopie des Ebers aus der Borstei.
Und der Eber von der Borstei steht dort noch heute, weniger beachtet als seine Kopie aus der Innenstadt. Doch Bernhard Borst war nicht nur ein Kunstmäzen, er liebte auch die Musik. Regelmäßig ließ er in den Höfen der Borstei das Münchener Kammerorchester spielen. Auch bekannte Tenöre traten auf.
Borstei: Auch technisch visionär

Um von der städtischen Stromversorgung unabhängig zu sein, rüstete Borst technisch auf. Kurzerhand ließ er für die Siedlung ein eigenes zentrales Heizkraftwerk bauen. Es war deutschlandweit das einzige in einem Wohnensemble, lieferte Wärme und Strom. Heute ist es immer noch in Betrieb, liefert aber keinen Strom mehr, sondern Warmwasser.
Das alles hatte einen bestimmten Zweck: Die Siedlung sollte die Hausarbeit erleichtern. In der Nähe des Heizkraftwerks liegt auch die ehemalige Wäscherei, wo die Bewohner ihre Wäsche abgeben konnten: Schranktrocken in 24 Stunden, so lautete das Versprechen der Hausverwaltung.
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