Die Aufsteiger - zu Besuch bei arbeiterkind.de
Wie wird man der erste Akademiker in der Familie? Die AZ war beim Stammtisch von arbeiterkind.de und hat sich umgehört
MÜNCHEN Es ist immer noch so: In Deutschland entscheidet die Herkunft über Bildungschancen. Von 100 Akademikerkindern gehen 71 an die Uni, von 100 Kindern nicht-akademischer Herkunft studieren lediglich 24 – obwohl doppelt so viele die Hochschulreife haben. Das zeigt die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks.
Bildungsexperten diskutieren, wie sich das ändern lässt. Parallel dazu hat sich die Initiative arbeiterkind.de entwickelt. Sie wendet sich nicht nur an echte „Arbeiter”-Kinder, sondern an alle aus Nicht-Akademiker-Familien: junge Leute, deren Eltern Verkäufer, Handwerker, Büro- oder Bankangestellte sind. Sie sollen dabei unterstützt werden, die „Ersten” in der Familie zu sein.
Die AZ hat den Stammtisch der Münchner Gruppe besucht und sich umgehört. Wie wird man der oder die „Erste”? Welche Herausforderungen bedeutet das – finanziell, organisatorisch oder persönlich? Und lohnt es sich?
„Wer aus einer Nicht-Akademiker-Familie stammt, wächst nicht mit der Sicherheit auf, dass sich ein Studium lohnt und man es schaffen kann”, sagt die 29-jährige Delia. Sie hat es selbst erlebt: Aufgewachsen auf Rügen, der Vater Bauarbeiter, die Mutter Verkäuferin, wechselte sie nach der Grundschule auf die Realschule. Die Noten hätten auch für die höhere Schule gereicht, doch die Eltern entschieden: „Das Gymnasium ist zu weit weg.” Keine ungewöhnliche Entscheidung in einer ländlichen Region.
Erst eine Bekannte erkannte Delias Bildungs-Potenzial und bestand nach der 7. Klasse darauf, dass das Mädchen aufs Gymnasium geht. Nach dem Abi zog Delia weg: „Das Studium war eine Möglichkeit, rauszukommen.” Und es erforderte Ehrgeiz: Nebenjobs, Stipendien-Anträge, Bildungskredit. „Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten. Meine Eltern konnten mir in der Schule schon nicht inhaltlich helfen und im Studium erst recht nicht.” Sie sagt das als Feststellung, nicht als Vorwurf. Heute hat die junge Frau einen Studienabschluss in Soziologie und arbeitet in einem festen Job.
Der Ansprechpartner, den sie sich selbst manchmal gewünscht hätte, ist Delia nun für andere bei arbeiterkind.de. Genauso wie der 33-jährige Klaus. Wie alle Gesprächspartner will auch er nicht mit seinem Nachnamen in der Zeitung stehen: „Im Arbeitsalltag spielt die soziale Herkunft keine Rolle und man will sich nicht darauf reduzieren lassen.” Er ist der Leiter der Münchner Gruppe von arbeiterkind.de und promoviert gerade in BWL. Seine Eltern, der Vater Handwerker, die Mutter mit eigener Landwirtschaft, haben ihn unterstützt, wo sie nur konnten – ob finanziell oder moralisch.
Ob die soziale Herkunft im Studium eine Rolle spielte? Freilich nicht in jedem Moment. Doch Klaus hatte, wie viele Studenten aus Nicht-Akademiker-Haushalten, mehrere Schlüsselerlebnisse. Zu Beginn des Studiums sprach er mit den Kommilitonen über die Eltern: „Von fünf Jungs waren vier Väter Anwälte oder Ärzte. Nur mein Vater war Zimmermann.” Umgekehrt wandelte er daheim zwischen den Lebenswelten. „Zu Hause wurde auch mal über Akademiker geschimpft, dass etwa ein Ingenieur nur mit theoretischem Wissen auf die Baustelle komme und von der Praxis wenig Ahnung habe. Jetzt war ich auf einmal auf der anderen Seite.”
Dieses Gefühl, auf der andere Seite zu stehen, kennt auch die 26-jährige Saliha. Ihre Familie stammt aus der Türkei. „Meine Mutter hat immer viel Wert auf Ausbildung gelegt, denn sie hatte die Möglichkeit als junge Frau nicht. Ich wollte immer schon studieren”, sagt die Wahl-Münchnerin.
Sie merkte aber auch, dass das für andere nicht so selbstverständlich war. Als ein Lehrer sie in der 6. Klasse Realschule fragte, was sie später machen wolle, antwortete sie: Anwältin. Er lachte nur. „Das passte nicht in sein Bild, das er von einem türkischen Mädchen in einer Kleinstadt hatte.” Sie ließ sich nicht verunsichern, studierte BWL mit Schwerpunkt Recht und arbeitet jetzt als Unternehmensberaterin.
„Viele Migrantenkinder denken, sie schaffen ein Studium sowieso nicht”, sagt sie. „Sie brauchen jemanden, der ihnen Mut macht.” Freilich geht es auch ums Finanzielle. Davon handeln die meisten Anfragen an arbeiterkind.de. Denn die wenigsten Schüler und Studenten kennen alle Möglichkeiten: Wie bewirbt man sich um ein Stipendium oder bei einer Studienstiftung? Wie steht’s um Nebenjobs und Bildungskredite? Genauso wichtig ist das Selbstvertrauen.
So wie bei Roland, der ebenfalls der erste Akademiker in der Familie ist: Hauptschulabschluss, Elektriker-Lehre, Kammerbester bei der Gesellenprüfung – das war ganz im Sinne der Eltern. „Ihnen hätte es auch gefallen, wenn ich nach meiner Lehre einen festen Job in einem großen Unternehmen angenommen hätte.” Doch Roland will mehr. Er macht das Abitur nach, verzichtet bis er 24 ist auf die erste eigene Wohnung und Reisen. Dann studiert er in Regensburg Physik – Heidelberg oder München wäre ihm zwar lieber gewesen, doch er entscheidet sich für die günstigste Stadt. Jetzt ist er 33 und gibt demnächst seine Doktorarbeit in Physik ab.
Wie er’s gepackt hat? „Ich habe mich an meinem Plan festgebissen.”
INFO: Die deutschlandweite Initiative arbeiterkind.de berät Schüler, Studenten und deren Eltern zu Fragen rund ums Studium: zum Beispiel Finanzierung, Stipendien, Stiftungen. Es gibt ein Mentoren-Programm, außerdem werden Vorträge in Schulklassen organisiert. Die Gründerin Katja Urbatsch hat gerade ein Buch veröffentlicht: „Ausgebremst. Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt“ (Heyne, 11,99 Euro). Die Münchner Gruppe trifft sich an jedem ersten Donnerstag im Monat im Café Telos (Kurfürstenstraße 2). Wer Fragen hat oder gerne eine Einzelberatung hätte, schreibt an muenchen@arbeiterkind.de.
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