Die Au sucht Tugra
MÜNCHEN - Die Familie des Zweijährigen startet eine Suchaktion im Stadtviertel, Nachbarn und Anwohner helfen mit. Die Polizei glaubt nicht mehr, dass der Bub ertrunken ist.
Sedat spricht nicht mehr. Der Mann mit dem dunklen Lockenkopf schlägt die Hände vors Gesicht. Er kann nur noch schluchzen. Auch seine Frau Ebru ist verstummt. Seit Samstag ist ihr kleiner Sohn Tugra verschwunden. Die Verzweiflung hat dem jungen Ehepaar die Sprache geraubt.
Zusammen mit Verwandten und Freunden sitzen die beiden 25 Jahre alten Eltern im Freizeitheim „Kegelhof“ in der Au. Sie halten Wache. Sie warten auf das Wunder. Oder doch nur auf einen Hinweis. Der schlimmste Albtraum aller Eltern bestimmt seit Samstag das Leben der Münchner Familie Emiroglu. „Ich bin bewusstlos“, seufzt Sarie, der Opa des zweieinhalb Jahre alten Tugra, „ich kann nicht mehr“.
Hier im Kegelhof wollte die Familie das Hennafest, den türkischen Polterabend, feiern, mit 60 Verwandten aus ganz Deutschland. Um 16 Uhr war dann der kleine Tugra weg. Man hatte ihn noch im Türrahmen der Küche gesehen, wie er mit seinem schwarzen Kinder-Smoking dastand und mit großen Augen dem Treiben und den Vorbereitungen für das Fest zugeschaut hat. Es ist die letzte Erinnerung an den fröhlichen Knirps mit dem lockigen dunkelblonden Haar.
„Wir haben in ganz München Fotos von Tugra aufgehängt“, erzählt eine Freundin der Eltern. Seit Samstag lassen sie nichts unversucht, den Kleinen zu finden. Sie haben an nahezu allen Haustüren in der Au geläutet, den Anwohnern das Foto gezeigt und gefragt: „Habt ihr diesen Jungen gesehen?“ Doch niemand hat etwas beobachtet. Niemand kann ihnen helfen. Am Wochenende durchkämmte die Feuerwehr den Auer Mühlbach, senkte den Wasserpegel ab, um den Grund und die Wehre des Isarzuflusses mit Sonar abzusuchen. Doch keine Spur war zu finden.
„Ein Bub im schwarzen Anzug müsste eigentlich auffallen“, sagt ein Polizeisprecher am Montag. Und dass der Junge in den neben dem Kegelhof fließenden Auer Mühlbach gefallen ist, wird für die Polizei immer unwahrscheinlicher. „Es deutet nichts darauf hin“, heißt es. Man habe auch sämtliche Gebäude, Hinterhöfe und Mülltonnen abgesucht, auch mit Spürhunden, doch „leider ohne Erfolg“.
Das einzige, was Tugras Familie nun noch Hoffung spenden kann, sind vage Prophezeihungen und sogar Wahrsagerei. Ein Dorfgeistlicher in der Türkei hat den Großeltern versichert: „Der Junge lebt.“ Und: „Er ist nicht im Wasser.“ Also eine Entführung? „Wir wissen es nicht“, sagt Opa Sarie.
Während sich die Älteren an die Aussagen des Geistlichen klammern, warten die Jüngeren auf Nachrichten ihrer Handys. Sie haben Tugras Portrait überall im Internet verschickt. Doch auch die digitale Welt liefert bislang keine Hinweise.
Das Verschwinden des kleinen Buben lässt in der Au niemanden unberührt. In dem ruhigen Stadtteil kennen sich die Menschen und grüßen sich auf der Straße. Nun legt sich das Leid der Familie Emiroglu wie ein Schatten auf das Viertel. „Es ist schrecklich, wenn man hört, wie die Familie weint und trauert“, erzählt eine Anwohnerin, selbst Mutter eines sechsjährigen Buben. Dass ein Entführer hier unterwegs sein könnte, hält sie für unvorstellbar. „Das glaube ich nicht. Der Junge ist ins Wasser gefallen“, meint die Frau.
Die 37-jährige Hanna H. erschaudert beim Anblick des kleinen Tugra, der überall in der Au und Giesing von den Vermissten-Plakaten lächelt. „Ich bin oft im Kegelhof, weil es dort so idyllisch ist“, sagt sie und packt die eineinhalb Jahre alte Lucie auf ihrem Arm noch ein wenig fester. „Ich bin sehr besorgt.“
Die Feuerwehr hat die Suche offiziell eingestellt. Und auch bei der Polizei macht sorgt der Fall des verschwundenen Tugra für Ratlosigkeit. Ein Sprecher sagt: „Langsam sind wir mit unserem Latein am Ende.“
Die Polizei und die Familie von Tugra Emiroglu bitten um Hinweis unter Tel. 089 29100.
Von Reinhard Keck und Ralph Hub
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