Die Anfänge der AZ: Stress, Klatsch und Sensationen

Die Abendzeitung feiert heuer 70. Geburtstag. In einer Jubiläums-Serie erinnert die Münchner Journalisten-Legende Karl Stankiewitz, Jahrgang 1928, an die Anfänge der AZ – und an herausragende Kollegen.
von  Karl Stankiewitz
© privat

München - Der Beruf des Journalisten ist einer der stressigsten überhaupt. Zeitdruck, wenig Freizeit, fast ständige Verfügbarkeit, neuerdings auch Angst um den Arbeitsplatz sowie der Führungsstil in manchen Medienhäusern summieren sich zu oft extremer Belastung.

Das Medium-Magazin zitierte 2014 eine Befragung, wonach ein Fünftel aller angestellten und freien Journalisten in Deutschland an "hohem Burn-out" leiden. Nach einer amerikanischen Untersuchung rangiert der Journalisten in der Stress-Skala gleich nach dem Soldaten und dem Feuerwehrmann noch vor dem Polizisten. Und nach amtlicher Statistik der Schweiz liegt er bei der Lebenserwartung neben Chemikern, Künstlern und Psychologen ganz unten.

Schon in der Redaktion der Abendzeitung – Arbeitszeit 16 Stunden täglich, Anfangsgehalt 450 Mark monatlich – erlitt ich als 21-Jähriger eine "vegetative Dystonie", so der ärztliche Befund. Und ich erlebte, dass sich befreundete Kollegen vorzeitig aus dem Beruf oder aus dem Leben verabschiedeten.

Wohl nicht zufällig hatten einige von ihnen als Gerichtsberichterstatter gearbeitet, in einer besonders aufreibenden Branche. So etwa Wolfgang Wehner von der SZ und Helmuth Guthmann, mit dem zusammen ich 1946 die erste Schulzeitung Münchens gemacht hatte. (Übrigens landete auch der dritte Mann vom Funke, Kurt Gessl, bald im AZ-Lokalen. Nur der Vierte, Hans Stützle, wurde kein Journalisten, sondern Sozialreferent der Stadt und Fraktionschef der CSU, die unseren "brenzligen Funken" angegiftet hatte.

Helmuth Guthmann: Der Gutmensch

Als Landtagskorrespondent der Abendzeitung versäumte Helmuth Guthmann kaum eine Sitzung des Petitionsausschusses, denn die dort behandelten Eingaben von Bürgern, die sich von der Staatsbürokratie benachteiligt glaubten, waren ihm Herzenssache.

Als er schließlich Gerichtsreporter der AZ wurde, setzte er sich besonders für Menschen ein, die ohne eigentliche Schuld in die Mühlen der Justiz geraten waren. Selber aber war er ein feiner Pinkel. Gern erschien er mit Panamahut; bei einer Wanderung zu dritt klopfte er sich mitten im Zugspitzfels den Staub mit einer Kleiderbürste ab.

Bei der Quick dann hatte mein kränklich gewordener Klassenkamerad nur noch die Rätsel- und Witzseite zu betreuen. Außerdem war er Betriebsrat. Für die Kollegen setzte sich der "Rätselonkel" dermaßen ein, dass sie ihm einen Beinamen gaben, der wohl an sein unerreichbares Vorbild Bert Brecht erinnern sollte: "Der gute Mensch von Poing" (wo er wohnte).

Der kleine Reporter starb, als er Rentner wurde, am 18. Mai 1995. Übermäßiger Genuss von Zigaretten und starken Getränken haben vielleicht seinen Tod beschleunigt. Nach Kuba, das Land seiner Träume, kam der Helmuth nie.

Johannes Baptist Obermaier: Der Promi-Jäger

22 Jahre lang fütterte Johannes Baptist Obermaier das Münchner und später das bundesdeutsche Publikum mit Brosamen vom Tisch der Berühmten. Am Anfang der wirtschaftswunderlichen 50er-Jahren erfand er für Deutschland diesen Job, den man zuerst "Klatschreporter" nannte. Er veröffentlichte ungefähr 9.000 Kolumnen.

Unter dem Logo "Hunter" (Jäger) berichtete der in Mühldorf und im Krieg aufgewachsene Hannes, der vordem auch mal als Schwarzhändler unterwegs gewesen war, aus Bars und Boudoirs, tratschte über Weltstars und Starlets, über Society-Snobs und Schnorrer. So entstanden heute so geläufige Schlüsselworte wie "Promis" und "Schickeria". Täglich erschien eine solche Kolumne. Sie hieß zunächst "Ganz privat". Zeitweilig wurde sie von 40 Zeitungen nachgedruckt oder von anderen nachgeahmt.

Naserümpfend bezeichneten ihn manche als "Schlüssellochgucker". Hannes hatte es aber gar nicht nötig, durch Löcher in fremdes Privatleben zu gucken, denn er war immer schon vorher "drin" (wie Helmut Dietl später in seiner TV-Serie "Kir Royal" nacherzählte). Er war eh überall dabei.

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Zwischen Fuschl und Acapulco wusste Obermaier alles zuerst: die Flirts, Verlöbnisse, heimlich geplante Hochzeiten und drohende Scheidungen. Gelegentlich hat er Klatsch nicht nur transportiert, sondern selbst produziert.

Eines Tages wurde es dem Adabei leid, "mit der Eitelkeit der Leute zu leben, mit all dem Getue, den falschen Schmeicheleien". Der Hofjägermeister aus München legte 1974 das Notizbuch und das dienstliche Whiskyglas weg. Er zog sich in sein Traumhaus nach Terracina zurück, griff ins dicke Privatarchiv und schrieb seine Memoiren.

Bald hagelte es Beschwerden von Leuten, die sich durch "Hunters Treibjagd" betroffen oder beleidigt fühlten. "Am empfindlichsten sind die lieben Kollegen von der Journaille, die sonst gern jeden Beliebigen in die Pfanne hauen", klagte mir der Klatschonkel.

Am 15. Dezember 1990 ist er gestorben, nur wenige weinten ihm einen Nachruf nach. Hannes hatte mir noch prophezeit, in zwei bis drei Jahren werde die "Kolumnisterei" tot sein. Doch heute beliefern mehr Klatsch-Macher denn je den Markt. Wie sich selbst Insider täuschen können!

Karl Stankiewitz: Der Nazi-Jäger

Die Rolle des Chefreporters, wie sie später der sozial engagierte Werner ("Bobby") Meyer ausüben wird, gab es in der frühen Abendzeitung noch nicht. Irgendwie aber wurde sie mir vom alten Tschuppik zugewiesen. Nicht zuletzt wegen meiner Reportage über einen gewissen Bruno Gröning, die ich für die Süddeutsche Sonntagspost aus dem westfälischen Herford mitgebracht hatte. Sie erregte ungeheures Aufsehen.

Werner ("Bobby") Meyer († 2008).
Werner ("Bobby") Meyer († 2008). © AZ-Archiv

Danach trug die AZ dazu bei, dass dieser Wunderheiler nach München umsiedelte und Abertausende von Heilungsuchenden, aber auch üble Geschäftemacher, um sich scharte. Fürs erste Münchner Interview setzte Politik-Chef Heizler ein Extrahonorar von 50 Mark aus. Es erschien am 20. August 1949 unter der Schlagzeile "Ich bin kein Wunderdoktor" und ließ die Auflage auf 100.000 klettern. Die Prämie habe ich nie bekommen.

Karl Stankiewitz (r.) beim Interview mit dem vermeintlichen Wunderheiler Bruno Gröning.
Karl Stankiewitz (r.) beim Interview mit dem vermeintlichen Wunderheiler Bruno Gröning. © AZ-Archiv

Als die Berlin-Blockade endete, dampfte ich mit der ersten geschmückten Eisenbahn in die Sowjetzone. In Berlin besuchte und beschrieb ich die "verbotene Stadt" von Karlshorst, das Kriegsverbrechergefängnis von Spandau, den Menschenrechtler Rainer Hildebrandt (dessen Witwe heute das Checkpoint-Charly-Museum betreut) sowie eine gewöhnliche Familie in Pankow.

Ich berichtete von einem Kannibalen-Prozess in Bremen und vom Untergang des Kanonenkönigreichs Krupp in Essen. Lange und intensiv verfolgte ich die Spuren von großen Nazis, die eine SS-Bande via Vatikan nach Syrien und Südamerika geschmuggelt hatte.

Die Themen lagen tatsächlich "auf der Straße", wie mir AZ-Herausgeber Werner Friedmann zu Beginn meiner Laufbahn prophezeit hatte. Doch die Atmosphäre im Haus war vergiftet, weil es gegen Ende des Jahres 1949 immer öfter zu Auseinandersetzungen zwischen Friedmann und Chefredakteur Tschuppik kam. Wegen dessen Sensationsmache, aber auch aus persönlichen Gründen. Schließlich wurde der gern aufbrausende Veteran der alten und wohl altmodisch gewordenen Prager Schule "gegangen". Brummend entschwand Tschuppik mit Frau für immer nach Wien.

Sein Nachfolger als Chefredakteur war Rudolf Heizler. Für mehrere junge Redakteure ein Anlass, sich mit dem Alten zu solidarisieren und ebenfalls von der Abendzeitung zu verabschieden. Das galt auch für mich, zumal mich Stern-Herausgeber Henri Nannen nach Hamburg holte, wo ich der Nazischmuggelgeschichte weiter nachgehen sollte.

Gerd Thumser: Der Heimattreue

Gerd Thumser (†).
Gerd Thumser (†). © privat

Die Lokalredaktion übertrug Friedmann dann meinem Freund Gerd Thumser. Der kam zwar mit Heizler, den er "Gifthaferl" nannte, auch nicht zurecht, doch tauchte er mutig und voll neuer Ideen in das "bleiche Haifischbecken" ein, als das er sich – ebenfalls frei nach Brecht – die Medienwelt ausmalte. Die AZ, dieses "Irrenhaus", habe ja jetzt die Flegeljahre hinter sich, meinte er. Einmal noch ging ihm der nicht uneitle Sigi Sommer wegen sieben herausgekürzter Zeilen an die Gurgel.

Gerd verstand sich prächtig mit dem auch recht brummigen Oberbürgermeister Thomas Wimmer, den er durch ein nie aufgeführtes Theaterstück ("Unser Dammerl") verewigen wollte. Desgleichen mit dessen Nachfolger Hans-Jochen Vogel, den er bei einer weltweiten Aktion zwecks Heimholung ehemaliger jüdischer Mitbürger publizistisch unterstützte. Viele kamen.

Ohne Erfolg verhandelte Thumser indes mit Oskar Maria Graf und anderen Künstlern. Über Ludwig Thoma schrieb er mehrere Bücher. Nebenbei fielen ihm noch ein paar Texte für erfolgreiche Schlager ein. Und ganz am Ende des Jahrtausends präsentierte der eben verabschiedete Bundespräsident Roman Herzog im Münchner Presseclub noch ein Thumser-Buch mit dem unschönen Titel "Journalistengift", das Dieter Hildebrandt mit einem nachdenklich stimmenden Vorwort versehen hatte: "Wir brauchen Journalisten für die Weile, die die Menschen brauchen, um zu begreifen, dass man auch eine Zeitung mit Anstand machen kann."

Bis kurz vor seinem Tod im Sommer 2017 hat der Gerd kleine Geschichten für seine Abendzeitung geschrieben. Reporter bleibt Reporter.


Teil 1 der AZ-Serie: 70 Jahre AZ - So entstand die Abendzeitung

Teil 2 der AZ-Serie: Chefredakteur Michael Schilling - Dafür steht die Abendzeitung

Teil 3 der AZ-Serie: Als in der Abendzeitung die Messer flogen

Teil 4 der AZ-Serie: Legendäre AZ-Autoren - Es war Sommer – und noch mehr

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