"Der Tod jeder Innenstadt": Mit welchen Problemen die Fußgängerzone in München zu kämpfen hat

Altstadt - Als kleiner Bub stand Nikolaus Neusiedl oft am Fenster im ersten Stock im Ledergeschäft seines Vaters und schaute auf die Neuhauser Straße hinunter. "Ich kann mich noch erinnern, wie die Trambahn durch das Karlstor durchgefahren ist." Auch Autos rollten damals, in den 1950er- und 60er-Jahren, zwischen Marienplatz und Stachus hin und her. Dann allerdings folgte eine schwierige Zeit für Neusiedls Vater: "Man hat angefangen, die ganze Stadt umzugraben." Das Tunnelsystem für U- und S-Bahn entstand - und die Münchner Fußgängerzone.
Während der Bauarbeiten war es für Kunden nicht leicht, den Laden zu erreichen, erzählt Neusiedl, der Leder Fischer in der Neuhauser Straße von seinem Vater übernommen hat. Doch die Geduld lohnte sich: "Mein Vater war ganz glücklich." Nach der Eröffnung der Fußgängerzone vor 50 Jahren ging es für das Geschäft wieder rapide aufwärts. Und nicht nur Neusiedls Vater freute sich. "München hat wahnsinnig davon profitiert."

Beschlossen wurde die Fußgängerzone 1966 vom Stadtrat. Die Altstadt sollte den Menschen zurückgegeben werden, sagte damals der Architekt Bernhard Winkler, der den Straßenzug gemeinsam mit Siegfried Meschederu plante. Eröffnet wurden die Bereiche in der Neuhauser und Kaufinger- sowie in der Theatinerstraße schließlich 1972 und 1973.
"Man hat sich damals zu einem großen Schritt entschieden", sagt Verkehrswissenschaftler Klaus Bogenberger von der TU München. Der Stachus sei einer der meistbefahrenen Plätze Europas gewesen, für die Einrichtung der Fußgängerzone habe man ganze Hauptstraßen für den Verkehr gesperrt.

Die Fußgängerzone in München wurde zum wirtschaftlichen Erfolg
Heute lösen bereits weitaus kleinere Maßnahmen enorme Kritik aus. Dass es damals nicht zu großen Protesten kam, liegt für Bogenberger unter anderem am wirtschaftlichen Erfolg. Wenn dieser sich nicht eingestellt hätte, glaubt der Forscher, hätte es sicher Diskussionen gegeben. Doch der Erfolg kam, die Fußgängerzone wurde zum Vorbild. Das hat laut Bogenberger mehrere Gründe. Der "gute Mix" an Läden, Restaurants und Cafés lade zum Verweilen ein, die schöne und gepflegte Atmosphäre schaffe eine hohe Aufenthaltsqualität.
Auch die gute Anbindung ist dem Wissenschaftler zufolge hilfreich: Das sternförmige Netz der öffentlichen Verkehrsmittel sei optimal auf den Bereich der Fußgängerzone ausgerichtet. Geändert hat sich in den 50 Jahren seit der Eröffnung vieles. Sibylle Blessing-Nagler, die 2017 gemeinsam mit ihrem Mann Werner Blessing den mehr als 170 Jahre alten Juwelierladen Carl Thomass am Marienplatz übernommen hat, beobachtet etwa im Vergleich zu früher deutlich mehr Menschen in der Fußgängerzone, wie sie sagt.

Vielen ist es am Wochenende in der Münchner City zu voll
"Das ist einerseits gut für die Läden. Auf der anderen Seite sagen aber auch viele: Am Wochenende gehe ich nicht mehr in die Stadt, da ist zu viel los." Tatsächlich ergab kürzlich eine Umfrage des Handelsverbands Bayern, der Günther Rid Stiftung für den bayerischen Einzelhandel und des Vereins Citypartner, dass die Menschenmassen die Besucher am meisten an der Innenstadt stören. Hinzu kommen in letzter Zeit vermehrt Demonstrationen auf dem Marienplatz, sagt Werner Blessing. "Momentan findet fast täglich eine statt." Viele Kunden schrecke das ab.
Und doch gibt es offensichtlich noch viele, die sich nicht abschrecken lassen. Während der Pandemie habe es immer wieder Prognosen gegeben, die Fußgängerzone würde nicht mehr gebraucht, sagt Wolfgang Fischer vom Verein City Partner. "Aber man sieht: Sie haben sich geirrt." Die Statistiken geben ihm Recht: Das Marktforschungsinstitut IVD Süd hat im Sommer die Passantenzahlen in der Innenstadt gemessen und herausgefunden, dass sie inzwischen wieder ähnlich belebt ist wie vor der Pandemie.
Die Ladenbesitzer freut das – und doch kämpfen sie mit Schwierigkeiten. An erster Stelle nennen viele die steigenden Mieten. Gerade kleine, alteingesessene Händler können sich die oft nicht mehr leisten – immer mehr von ihnen werden durch internationale Ketten ersetzt.
Nicht nur in München: Großinvestoren sind der Tod jeder Innenstadt
"Wenn Sie sich anschauen, wie Monaco Franze durch die Fußgängerzone geht, werden Sie heute wahrscheinlich nicht mehr viele der Läden finden", sagt Verkehrswissenschaftler Bogenberger. Auch Gregor Tretter, Geschäftsführer des seit 1953 in der Neuhauser Straße ansässigen Schuhhauses Tretter, berichtet: "Für Münchner Familienunternehmen wie uns sind natürlich die internationalen Fast-Fashion-Stores eine starke Konkurrenz."
Dass zunehmend große Investoren die Flächen in den besten Lagen aufkaufen, sei "der Tod jeder Innenstadt", sagt Sibylle Blessing-Nagler vom Juwelier Carl Thomass. "Wenn in Kopenhagen die gleichen Läden sind wie in München, braucht ja keiner mehr zu kommen." Wichtig sei vielmehr die Individualität. Und die wird durch kleine, alteingesessene Händler aufrechterhalten.
Den Online-Handel sehen manche dagegen nur bedingt als Bedrohung. "Der Markt ist irgendwann gesättigt", glaubt Verkehrsforscher Bogenberger. Der Kauf im Internet habe schließlich auch Nachteile, man könne die Ware etwa nicht anprobieren. Für Gregor Tretter sind "die sofortige Verfügbarkeit, die persönliche Beratung und das ausgewählte Sortiment an Markenschuhen" entscheidende Vorteile des klassischen Geschäfts. "Wir wollen unseren Kundinnen und Kunden ein Einkaufserlebnis bieten, das sie eben nicht in einem anonymen Onlineshop finden können."
Tretter sieht den Online-Handel eigenen Worten zufolge eher als "sinnvolle Ergänzung" und "digitales Schaufenster": Viele würden sich schon vorab im Internet über die Schuhe informieren, sie dann aber doch vor Ort kaufen.
Erreichbarkeit der Innenstadt ist das A und O
Damit das so bleibt und die Menschen weiter gerne in die Innenstadt kommen, müsse man "gut auf die Fußgängerzone aufpassen", sagt Nikolaus Neusiedl von Leder Fischer. Er plädiert dafür, die Erreichbarkeit besser auszubauen – vor allem für Besucher von außerhalb. "Ein Oberschleißheimer sagt vielleicht: Ich fahre doch nicht in die Innenstadt, wenn die S-Bahn sowieso nicht kommt."
Nach Neusiedls Ansicht könnten zudem Veranstaltungen wie die European Championships im vergangenen Sommer helfen. So würden die Menschen stärker in die Innenstadt gelockt – eine gute Werbung, auch auf internationaler Ebene. Sibylle Blessing-Nagler vom Juwelier Carl Thomass wünscht sich dagegen, die Fußgängerzone mit grünen Oasen aufzuwerten, wie sie sagt. Bäume und Bänke würden nicht nur das Klima verbessern, sondern auch Ruhe bringen und den Besuchern Gelegenheiten bieten, sich zwischendurch vom Bummel zu erholen.
"Das pulsierende Herz der Innenstadt": Die Lebensader von München ist unersetzlich
In jedem Fall sind die Händler sich sicher: Die Fußgängerzone ist ein Konzept mit Zukunft. "Sie ist das pulsierende Herz der Innenstadt", sagt Gregor Tretter. Neben den Einkaufsmöglichkeiten sei sie auch ein sozialer Treffpunkt und spiele eine zentrale Rolle bei der Schaffung einer lebendigen und attraktiven urbanen Umgebung. Für Nikolaus Neusiedl von Leder Fischer gibt es keinen Ersatz für die "Lebensader der Landeshauptstadt". Einkaufszentren hätten keine vergleichbare Atmosphäre, "die Fußgängerzone ist einzigartig und nicht reproduzierbar".
Auch Forscher Bogenberger ist zuversichtlich: "Die Münchner Innenstadt ist sehr stark und hat eine überregionale Bedeutung." Mit kleinen Ortskernen weiter auf dem Land könne man sie nicht vergleichen. Die Fußgängerzone sei ein Magnet, auch für Touristen und Ausflügler. "Sie hat einfach Strahlkraft. Ich glaube nicht, dass sie an Attraktivität verliert."