Der Sandsack als Therapeut: Boxer hilft Geflüchteten in München bei der Traumabewältigung
München - Wenn Mandela Osborn von der Woche erzählt, die sein Leben brutal veränderte, hält er Blickkontakt und lächelt. Gelassen schildert er, wie er an den Handgelenken aufgehängt wurde, man seine Hoden abschnürte und sechs Kilogramm Gewichte daran band. Zwei Tage baumelte Osborn so von der Decke einer Baracke in Uganda. Dann kamen die Stromstöße.
Boxen gegen die Albträume
Heute, fünf Jahre später, hilft Mandela Osborn anderen Geflüchteten, mit ihren Flucht- und Kriegstraumata klarzukommen. Indem er sie das Boxen lehrt. Er zeigt ihnen, wie sie mit Disziplin und körperlicher Verausgabung Albträume, Flashbacks und Reizbarkeit in den Griff bekommen.
Und so halten sich im Münchner Boxwerk in der Maxvorstadt bekannte Barbesitzer fit, während neben ihnen junge Afghanen mit Tänzelschritten, Leberhaken und rechten Geraden gegen die Erinnerungen kämpfen. Eine Psychotherapie ersetzt das nicht. Doch Alternativen sind rar.

Über 8.000 Geflüchtete in München
Über 8.100 Geflüchtete sind aktuell in München untergebracht. Eine Zahl, die laut Sozialreferat stündlich variiert - und das nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine. Die Stadt erhebt nicht, wie viele von ihnen unter ähnlichen Traumata wie Osborn leiden.
Kann ein Ereignis nicht verarbeitet werden, spricht man von einem solchen Trauma. Je länger und intensiver man ihm ausgesetzt war, desto wahrscheinlicher, dass sich daraus Traumafolgestörungen entwickeln.
Dann kann sich eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln, bei der die Betroffenen von Nachhall-Erinnerungen gequält werden. Das belastet nicht nur sie selbst, sondern in der Folge oft auch die Gesellschaft und die Justiz.
Verbände kümmern sich um die Betreuung
Die Betreuung der Geflüchteten hat die Stadt ausgelagert an Verbände der freien Wohlfahrtspflege. Mit einem Betreuungsschlüssel von 1:100 vermitteln Organisationen wie die Diakonie diverse Beratungsangebote. Eines davon ist der Psychologische Dienst für Ausländer der Caritas. Leiterin Iulia Ilca fährt dafür mit Dolmetschern direkt in die Geflüchtetenunterkünfte.
"Das Angebot reicht vorne und hinten nicht"
Dort erwarten sie zwei Probleme: "Zum einen ist es sehr schwierig, die Not der Menschen zu bewerten. Das Angebot reicht vorne und hinten nicht. Wir haben immer um die hundert Leute auf der Warteliste."
Ilcas Team aus ehrenamtlichen und angestellten Psychologen macht regelmäßige Fortbildungen im Bereich Traumatherapie, doch Psychotherapeuten sind sie nun mal nicht. Projekte wie ihres sind niedrigschwellige Angebote, eine Brücke zur nächsten Hilfe.
Stabilisierende Beratung statt Therapie
"Wir können nur eine stabilisierende psychologische Beratung anbieten", erklärt Ilca. "Wir versuchen Betroffenen zu zeigen, dass ihre Beschwerden Verletzungen von traumatischen Erlebnissen sind und helfen ihnen dabei, die Symptome zu normalisieren, sodass sie ihren Alltag bewältigen können."
Doch wer im Krieg seine Liebsten verloren hat, tagelang gefoltert wurde oder neben Leichen im Mittelmeer trieb, braucht mehr Hilfe als Tipps zur Alltagsbewältigung. 15 Münchner Psychotherapeuten bieten Ilca an, je eine Person pro Jahr unbürokratisch und unentgeltlich zu therapieren. Über andere Organisationen wie Refugio kann Ilca noch ein paar Plätze mehr vermitteln. Sie weiß, dass das zu wenig ist.

Osborn floh aus Uganda
Als Mandela Osborn 2017 nach München kam, organisierte er sich über eine private Hilfsorganisation ein Gespräch mit einer Psychologin. Ihm ging es gut in seinem Heimatland Uganda. Als Kampfsportlehrer bei der Armee genoss er hohes Ansehen. Wenn George W. Bush zum Staatsbesuch kam, gehörte er zu dessen Personenschützern. Mandela Osborn wollte das Land trotzdem verlassen, er ertrug die Unterdrückung der Bevölkerung nicht länger. Dafür wurde er prompt verhaftet.
Seine Rettung war die ugandische Präsidententochter. Die trainierte er ebenfalls und sein Fehlen fiel auf. So ließ man ihn nach einer Woche Folter wieder frei. Osborn floh sofort aus dem Land, ließ alles hinter sich. Bis heute hat er seine Familie nicht wieder gesehen und bis heute sind ugandische Offiziere auf Vergeltung aus. Das weiß er, weil sein Bruder seinetwegen mehrere Male verschleppt und verhört wurde.
In ständiger Alarmbereitschaft – Zuflucht im Boxwerk
Die Münchner Psychologin besorgte ihm nach dem Erstgespräch einen der begehrten Psychotherapieplätze. Osborn litt unter extremen Schlafstörungen, war immer in Alarmbereitschaft. "Die Psychotherapeutin schickte mich weg und meinte, dass mein Trauma noch nicht abgeschlossen sei, weil immer noch nach mir gesucht wird."
Seine Rettung war das Boxwerk. Inhaber Nick Trachte lernte Osborn an seinem dritten Tag in München kennen, seitdem darf der Ugander kommen, wann er will. Er ist an sechs Tagen die Woche da, trainiert dort selbst für Wettkämpfe und gibt auch Unterricht. Trachte bezahlt ihm seine Trainerlizenz. "Sport hat mir extrem geholfen", erzählt Osborn. "Ich musste mich selbst wieder aufbauen. Das Boxwerk ist einer der Hauptgründe, weshalb ich genesen bin."

Linderung statt Genesung
Psychologin Iulia Ilca vermeidet das Wort Genesung. Sie spricht lieber von Linderung: "Menschen, die eine Traumatisierung hinter sich haben und PTSD-Symptomatik aufzeigen, haben ein superaktiviertes Nervensystem. Aktivitäten, bei denen man kleine Erfolge feiert, sich bewegt und mit anderen Menschen interagiert, können sehr beim Stressabbau helfen."
Trainingsprogramm für Geflüchtete
Wie viele Kampfsport-Studios in München hat auch das Boxwerk mittlerweile ein festes Trainingsprogramm für Geflüchtete. Für die meisten von ihnen ist eine Trauma-Bewältigung unrealistisch. Mandela Osborn sieht es pragmatisch: "Ich will jedem meiner Schüler beibringen, zu kämpfen - auch gegen Probleme und Depressionen. Ich bin glücklich, wenn um mich herum alle glücklich sind." Und wenn ihn trotzdem die Vergangenheit quälen sollte - er lächelt sie einfach weg.
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