Der Hass wächst: Fast täglich antisemitische Vorfälle in München

München - Stellen Sie sich vor, Sie stehen mitten in einem Sturm, schreien nach Hilfe, aber niemand kommt, um Sie zu retten. So fühlen sich Juden in München zur Zeit immer häufiger, sagt Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). Denn der Hass gegen Juden habe zugenommen. "Wer sich als Jude nicht bei Facebook und Twitter abmelden will, geht häufig auch noch mit Hassbotschaften zu Bett."
Die Fachstelle für Demokratie der Stadt hat deshalb gemeinsam mit jüdischen Gemeinden und Einrichtungen einen Aktionsplan gegen Antisemitismus erarbeitet. Diesen hat Miriam Heigl, die Leiterin der Fachstelle, am Donnerstag vorgestellt. München sei die erste Kommune Deutschlands, die so einen strukturierten Plan zur Bekämpfung von Antisemitismus auflegt.
Antisemitische Straftaten in Deutschland in zehn Jahren fast verdoppelt
Tatsächlich haben sich in den vergangenen zehn Jahren die antisemitischen Straftaten in Deutschland fast verdoppelt: Sie stiegen laut Innenministerium von rund 1.200 auf etwa 2.350 Straftaten im Jahr 2020. Der Hass, so schildert es Knobloch, komme von rechts, von Nationalsozialisten und AfD-Anhängern. Aber auch von linken Israelfeinden - und von Islamisten.
Das belegen auch die Zahlen, die Annette Seidel-Arpaci, die Chefin der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) in Bayern, nennt: Innerhalb von vier Wochen zwischen Mai und Juni gab es in Bayern 34 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu Israel.
Die Hälfte davon habe sich in München ereignet. Das heißt: Jeden zweiten Tag kommt es in München zu einem antisemitischen Vorfall mit Israelbezug. In München fand zum Beispiel im Mai auf dem Odeonsplatz eine Kundgebung statt, bei der an die 600 Menschen teilnahmen, die hauptsächlich palästinensische und viele türkische Flaggen schwangen und Parolen wie "Kindermörder Israel" skandierten.
"Jüdischen Menschen macht das Sorgen", sagt Knobloch. "Denn sie fühlen sich Israel verbunden." Um so dankbarer seien viele, dass sich der Stadtrat 2017 entschieden hatte, der gegen den Staat Israel gerichteten Boykott-Bewegung BDS, generell keine Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Ein Münchner klagte dagegen, weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt sah. Mit diesem Argument gewann er vor gut einem Jahr vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) will es damit aber nicht auf sich beruhen lassen. Die Landeshauptstadt werde alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, "um zu zeigen, dass wir uns entschieden gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit einsetzen", kündigte Reiter an.
München werde bis vor das Bundesverwaltungsgericht ziehen.
Impfgegner und Verschwörungstheoretiker schüren ebenfalls Hass gegen Juden
Seit Corona ist zu den Nazis und Israelfeinden noch eine dritte Gruppe hinzugekommen, die Hass gegen Juden schürt: Impfgegner und Verschwörungstheoretiker. In Münchner Chat-Gruppen verbreitet sich zum Beispiel ein Bild, das eine Schafsherde auf dem Weg ins Impfzentrum zeigt - und dieses erinnert an ein KZ, schildert Robert Andreasch, ein Experte für Rechtsextremismus.
Gleichzeitig ist Antisemitismus weit verbreitet - auch in bürgerlichen Schichten: 27 Prozent aller Deutschen und 18 Prozent einer als "Elite" kategorisierten Gruppe haben laut einer Studie antisemitsche Gedanken.
Die Stadt will mit ihrem Aktionsplan dem entgegenwirken. Zum Beispiel soll durch Aktionswochen und Kampagnen die Aufmerksamkeit für Antisemitismus geschärft werden. Auch Fortbildungen für Justiz, Polizei und Verwaltung will die Stadt anbieten. Mit einem Aktionsfonds sollen zudem kulturelle, pädagogische Dialog- und Sportveranstaltungen finanziert werden.