"Der Bürger beschließt, was er will – er kann ja so gemein sein!"

Steht die Bürgerbeteiligung vor einem Triumphzug? Damit beschäftigen sich jetzt ein neues Buch – und der Alt-OB: Hier schreibt Christian Ude über den Münchner Bürgerwillen und dessen Auswirkungen.
von  Von Christian Ude
Kein Gebäude der Stadt soll höher sein als die Frauenkirche – das haben die Münchner, initiiert von Alt-OB Kronawitter (†), einst so entschieden (o.). Blick in den Luise-Kiesselbach-Tunnel: Diesen und den Petueltunnel hat ein Bürgerentscheid durchgesetzt (der damalige OB Ude war dagegen) (u.). Ohne Bürgerprotest gäb’s die Seidlvilla so nicht mehr (r.).
Kein Gebäude der Stadt soll höher sein als die Frauenkirche – das haben die Münchner, initiiert von Alt-OB Kronawitter (†), einst so entschieden (o.). Blick in den Luise-Kiesselbach-Tunnel: Diesen und den Petueltunnel hat ein Bürgerentscheid durchgesetzt (der damalige OB Ude war dagegen) (u.). Ohne Bürgerprotest gäb’s die Seidlvilla so nicht mehr (r.). © dpa/Petra Schramek/AZ

München - In München ist Bürgerbeteiligung ja ein wohliges Kapitel. Da gab es nie Straßenschlachten wie in Berlin, Horror in der Hafenstraße wie in Hamburg, Belagerungszustände wie bei Stuttgart 21 – und die Anlässe für den Bürgerprotest waren auch viel kultivierter: die Untertunnelung des Prinz-Carl-Palais verletzte das kunstsinnige Auge, und das Aufbegehren der kultiviertesten Bürger erschreckte den Oberbürgermeister so sehr, dass er das "Münchner Forum für Entwicklungsfragen" ins Leben rief, eine Dialog-Plattform, die vom Präsidenten der IHK (!) geleitet wurde, also nicht direkt den Aufstand probte, aber jahrzehntelang auch vielen Bürgerinitiativen und Betroffenen ein Forum bot, amtliche Planungen immer wieder kritisch hinterfragte und neue Sichtweisen einbrachte.

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Gernot Brauer hat diese Geschichte gründlich recherchiert und kompakt erzählt – eine unverzichtbare Materialsammlung für jeden, der wissen will, warum München so geworden ist, wie es ist – und wie Demokratie in der Kommune besser funktionieren kann, als wenn man sich alle sechs (!) Jahre auf Urnengänge beschränkt.

Ohne Bürgerprotest gäb’s mehr Autoverkehr und weniger Tram

In Geschichtsbüchern ist München das Werk seiner kunstsinnigen Regenten, in Kunstbänden die Leistung genialer Architekten, in städtischen Ausstellungen ("München wie geplant!") das Verdienst seiner Planungsbehörde – und in Brauers Buch die Tat protestierender Bürger. Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, in der Mitte.

Aber die Bürger wurden am häufigsten übergangen – gut, dass Gernot Brauer hier dagegen hält. Ohne Bürgerprotest wäre die Seidlvilla mit ihrem Park ebenso wie der Leopoldpark nicht erhalten und die Münchner Freiheit nicht freigehalten worden, vor allem aber wäre dem Vormarsch des Gewerbes rund um die Altstadt kein Riegel vorgeschoben worden.

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Ohne den Architekten und Stadtplaner Karl Klühspies, den Brauer zu Recht hervorhebt, hätte es in München vermutlich keine Renaissance der Tram und keine Freilegung von Stadtbächen gegeben – und auch nicht die besondere Sensibilität bei städtischen Sanierungsmaßnahmen wie in der Maikäfersiedlung.

Ohne nachhaltige Bürgerproteste wäre das Isartal quer durch die Stadt – einer der größten Vorzüge Münchens – der "Isarparallele" geopfert worden, einer zerstörerischen Verkehrsschneise, die dem "autogerechten Zeitgeist" folgen sollte. Allein schon Grund genug, das hohe Lied von Bürgerprotest und Bürgerbeteiligung zu singen. Aber verhält es sich wirklich so, dass Bürgerwille sich immer gegen die "autogerechte Stadt" und gegen überdimensionierte Großprojekte richtet?

Die Realität ist komplizierter – und darüber schweigen die Protagonisten der Unfehlbarkeit des Bürgerwillens gerne. Erst letztes Jahr wurde der dritte Tunnel für den Mittleren Ring eröffnet – durchgesetzt von der Bürgerschaft mit einem Bürgerentscheid und nicht etwa von der damaligen Stadtratsmehrheit (und ihrem damaligen OB, der sich heute über die Stadtreparatur am Petuelring genauso freut wie über die Verkehrsanbindung der Messe, die ohne Tunnel nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre).

Der Bürger weiß auch nicht immer so genau, was er eigentlich will

In Stuttgart arbeiten derzeit (trotz immer noch steigender Kosten) ein grüner Ministerpräsident und ein grüner OB fieberhaft am Bau von Stuttgart 21, weil die Bürgerschaft eines ganzen Landes es so beschlossen hat. Der Bürger beschließt einfach, was er will – er kann ja so gemein sein!

Und es ist auch nicht immer toll, was er begehrt. In München gab es beispielsweise mal ein Bürgerbegehren gegen zu viel Wohnungsbau. Im Osten und im Westen der Stadt. Von einer drohenden Skyline war die Rede. Heute fragen Besucher mit Recht, warum man nicht ein, zwei Stockwerke höher gebaut hat.

Manchmal bekommt der Bürgerprotest erst später mehr Zustimmung als zur Zeit der Kontroversen. Bei der Olympia-Skepsis zum Beispiel. Das IOC wird Mega-Events und Kommerz-Orgien und die Plünderung von Stadtkassen zurückstutzen müssen, ehe es in demokratischen Gesellschaften wieder mit Zustimmung der Bürgerschaft rechnen darf.

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Was haben die Hamburger über die Bayern gelacht, als die Bürgerentscheide den Olympiabewerbungen einen Strich durch die Rechnung machten. Und dann? Tja, der Bürger kann ja so gemein sein.

Steht die Bürgerbeteiligung vor einem Triumphzug? Vorsicht. Das Hauptproblem der politischen Parteien, der Gewerkschaften, Kirchen und Zeitungen, die unteren Bildungs- und Einkommensgruppen nicht mehr zu erreichen, hat längst auch die Bürgerbeteiligung erreicht.

Und dieses Problem wird mit jedem "Workshop" über Planungsalternativen für die Bauleitplanung nur schlimmer. Und wie die Parteien weiß oft auch der Bürger nicht so genau, was er will. Offene Grenzen und Bleiberecht für alle am Ort ihrer Wahl, wie auf eindrucksvollen Demos gefordert wird? Oder Grenzen des Wachstums und Schutz einheimischer Wohnungssuchender, wie dieselben empörten Bürger bei anderer Gelegenheit verlangen?

Die Realität ist manchmal furchtbar kompliziert.

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