Der BMW-Streik, von dem kaum jemand weiß

1972 streikten italienische Arbeiter bei BMW – und flogen raus. Ein Historiker hat die wenig bekannte Aktion erforscht. Hier spricht er über die Verbindung von Studentenbewegung und Gastarbeitern - und ihre Grenzen.
München - Proteste in den 60er- und 70er-Jahren: Da denkt man auch in München gleich an die Studenten. Doch auch in den Fabriken wurde rebelliert – zum Beispiel gegen die oft schlechten Arbeitsbedingungen der griechischen oder italienischen Arbeiter. Der Münchner Historiker Simon Goeke hat für sein gerade erschienenes Buch ("Wir sind alle Fremdarbeiter!", Verlag Ferdinand Schöningh, 59 Euro) einen wilden Streik von 1972 erforscht, wie Studenten und Arbeiter zusammen Politik machten – und, inwiefern das die Alternativkultur in der Stadt bis heute prägt.
AZ: Herr Goeke, mit den "68ern" meint man in Deutschland oft nur die Studentenbewegung. Gingen die Debatten der Studenten mit der Lebenswelt der Arbeiter oft nicht zusammen?
SIMON GOEKE: Ja, das ist so.
Auch aus München gibt es diese Geschichten: Dass die Studenten im SPD-Ortsverein etwas abgehoben Theorien diskutierten. War den Studenten die Lebenswelt der sogenannten Gastarbeiter noch fremder?
Sicher. Trotzdem gab es bis zur Debatte um die Notstandsgesetzgebung Verbindungen von linker Studentenbewegung und gewerkschaftlicher Arbeiterbewegung. Zunächst waren die Gewerkschaften ja sogar Teil der Bewegung gegen die Notstandsgesetze. Dann zogen sich die Gewerkschaften allerdings aus dieser Bewegung zurück. Das war der Bruch. Und dann haben Teile der Studentenbewegung gesagt: Wir müssen selbst zur Arbeiterklasse gehen. Andere wollten besonders das Subproletariat unterstützen, die Randgruppen, die ganz unten in der Gesellschaft standen. Dazu zählten zum Beispiel Heimkinder, aber eben auch die sogenannten Gastarbeiter.
"Studenten konnten in zwei Wochen zu BMW-Arbeitern werden"
Sie glauben, dass die ausländischen Arbeiter zugänglicher für die deutschen Linken waren als die bayerischen. Warum?
Ein Grund ist, dass die ausländischen Arbeiter die "Bild"-Zeitung nicht gelesen haben, die damals wahnsinnig gegen die Studentenbewegung gehetzt hat.
Machte sich das bemerkbar, wenn Studenten vor dem BMW-Fabriktor Flugblätter verteilt haben?
Ja, die deutschen Arbeiter haben gesagt: Schleichts euch!

Und die Ausländer nicht?
Die Vorstellung, dass die Menschen, die nach München kamen, alle arme Bauern oder Landarbeiterinnen waren, ist falsch. Viele kamen ursprünglich vom Land, hatten aber auch schon in Fabriken gearbeitet, etwa in Istanbul oder in Nord-Italien. Sie hatten schon Kontakt mit Gewerkschaften gehabt, in Spanien oder Portugal kämpften Arbeiter mit Studenten gegen die Diktatur. Und: In Südeuropa hatten es auch viele Arbeiterkinder auf die Universitäten geschafft, man war sich nicht so fremd.
Wie entstand in München die Gruppe "Arbeitersache"?
Das war ein klassisches Produkt der Studentenbewegung. Man war enttäuscht, dass die Gewerkschaften ausgestiegen waren aus der Bewegung gegen die Notstandsgesetze. Und wollte die ansprechen, die ganz besonders ausgebeutet waren. Man wollte, dass Studenten und Arbeiter diskutieren - und gemeinsam kämpfen.
Der Arbeitersache reichte es schnell nicht mehr, Flugblätter zu verteilen. Warum?
Sie haben festgestellt, dass man so eigentlich nicht vorankommt. Und entschieden, in die Betriebe reinzugehen. Das war damals ja sehr einfach. Es gab den Arbeitskräftemangel. Wenn jemand gesagt hat: Ich will Aushilfsarbeiter werden, dann wurde er zwei Wochen angelernt und konnte am Band anfangen. Man hat nicht groß nachgeforscht, was die Motivation war.
Die Arbeitersache wollte bewusst die Arbeiterschaft bei BMW unterlaufen. Warum BMW?
Weil dort viele Griechen waren. Und sie gesagt haben: Zu den Griechen haben wir guten Kontakt, weil man gemeinsam gegen die Militärjunta in Griechenland protestiert hatte. Es war zum Teil schon gelungen, deutsche und ausländische Arbeiter zusammenzubringen.

Bei der Streikaktion 1972 waren dann aber Italiener die treibende Kraft. Warum?
Der entscheidende Grund war wohl, dass in dieser Zeit gezielt italienische Linke nach München gekommen sind, um hier zu arbeiten. Das waren Kader, die in italienischen Fabriken für den anti-kapitalistischen Kampf agitiert hatten, das wollten sie nun auch unter den italienischen Arbeitern in Deutschland machen. Sie haben sich in den Zug gesetzt, um sich bei BMW anwerben zu lassen. "Studenten und Arbeiter: ein Kampf!", das war in diesen Jahren in Italien eine prägende Parole. Diese Kader suchten auch Kontakt zu deutschen Linken. Und Italien war auch in der Theorie immer das große Vorbild der Arbeitersache.
Wie sah das in der Praxis aus?
Man nannte es militante Untersuchung. Die Arbeitersache wollte nicht wie andere Studenten Flugblätter verteilen und den Arbeitern mit Marx erklären, was die richtige Position ist.
Sondern?
Die Arbeitersache wollte herausfinden, was der Arbeiterschaft unter den Nageln brennt und wo es ohnehin täglichen Widerstand gegen die Produktionsbedingungen gibt.
"Man erkannte das Bedürfnis nach Urlaub und Pausen"
Wie sah der aus?
Man hat sich krankschreiben lassen, um eine Pause vom Arbeitsalltag zu bekommen. Oder auch Sabotage betrieben. Wenn zum Beispiel ein Schraubstock ins Fließband fiel, dann war eine halbe Stunde Pause.
Wie wurde das gedeutet?
Man erkannte, dass es offenbar ein Bedürfnis gibt: nach Band-Pausen oder nach mehr Urlaub. Daraus hat man Forderungen entwickelt, die bei den Arbeitern auf Gehör stießen.
Was gefiel den deutschen Linken in München an den Italienern?
In den Texten der Zeit liest es sich so, dass der Kontakt zu den italienischen Linken echte Erweckungserlebnisse waren. Man hat verstanden, dass man mit Arbeitern auch feiern und tanzen und mal ein Bier trinken kann. Das hat in München viele beflügelt.
Wie kam es zu der Streikaktion bei BMW?
Es gab eine Gruppe von Facharbeitern, die hatte in Pisa an der Facharbeiterschule gelernt. Sie sind bei BMW mit dem Versprechen eingestellt worden, dass sie nach einem Jahr ungelernter Arbeit entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt und bezahlt werden würden. Das hat dann aber nie stattgefunden. Vielen Migranten ist es ja so gegangen.
"Ihr habt die Leute verheizt, kritisierten andere Linke"
Wie lief die Aktion ab?
Sie haben BMW ein Ultimatum gestellt und gesagt: Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllt, dann streiken wir. Zum Schichtwechsel sind sie dann durch den Betrieb marschiert und haben erklärt, dass Streik ist. Drauf entstand eine Unruhe und ein Großteil des Betriebs hat sich tatsächlich im Hof versammelt, um sich zu erkundigen, was los ist und was die Forderungen sind.
Wie hoch war der Schaden für BMW?
Da gibt es verschiedene Angaben. Die Arbeitersache gab an, dass die Bänder 20 Minuten stillstanden. Der Betriebsrat sprach von zwölf Minuten.
Klingt nicht viel.
Es ist nicht wenig für einen Betrieb wie BMW. Das ist schon ein erheblicher Schaden.
In der linken Szene wurde die Aktion als Erfolg gewertet?
Nein. Sie wurde sehr viel kritisiert. Auch links von den Gewerkschaften hieß es: Ihr habt da die Leute verheizt.
Sind die direkt beteiligten Arbeiter bei BMW rausgeflogen?
Ja. Aus dem Betrieb und aus dem Wohnheim. Das hat zu großen Solidarisierungen auch von Studenten geführt. Aber es hat alles nichts genutzt.
Stimmt es, dass BMW nach der Aktion erstmal keine Italiener mehr einstellte?
Ich habe keine Belege gefunden, es könnte auch ein Gerücht sein, dass sich immer weiter verbreitet hat. In der Zeit kamen ja dann ohnehin vermehrt türkische Arbeiter nach Deutschland. Klar ist aber: In dieser Zeit gab es in der deutschen Wirtschaft generell eine Angst vor Italienern.
"In italienischen Fabriken sind Menschen gestorben"
Warum?
Man hat gesehen, wie militant die Kämpfe in italienischen Fabriken sind, damals sind dort ja sogar Menschen gestorben. Und auch in Deutschland waren, nicht nur in unserem Beispiel aus München, oft Italiener an wilden Streiks beteiligt.
Wie groß war die Angst vor dem Aufstand der Gastarbeiter?
Offenbar sehr groß. Bei einer Notstandsübung des Bundes mit Innenministerium und Bundeswehr ging man vom Szenario aus, dass es in der Autoindustrie einen großen Italienerstreik gibt, den man nicht befriedet kriegt und sich die DDR auf die Seite dieses Aufstands schlägt. Das könnte dann am Ende bis zum Atomkrieg führen. Da sieht man schon, welches Gefahrenpotenzial die Sicherheitsbehörden in den Aufständen gesehen haben - und warum sollte man das dann in den Betriebsleitungen anders gesehen haben.
Die Arbeitersache verlor schnell an Bedeutung. Warum?
Man änderte in der Linken die Perspektive, zum Beispiel weg von der Fabrik als tendenziell männlicher Raum auch hin zu Frauenthemen, zur Stadtteilarbeit, dem Kampf um bezahlbaren Wohnraum. Trotzdem ist das Umfeld der Arbeitersache die Basis für vieles, was es auch heute noch an Alternativkultur in München gibt.
Zum Beispiel?
Der Trikont-Verlag war ganz eng verbunden mit der BMW-Gruppe der Arbeitersache, hat ja auch die italienischen Texte verlegt. Und die ersten multikulturellen Stadtteilfeste waren eine Kopie dessen, was man in Italien gemacht hat. Alle sollten zusammen feiern, ihre Kultur leben - und nebenbei wollte man Leute für den Kampf gewinnen.
"Multikulturelle Feste? In Schwabing waren da alternative Deutsche"
Offenbar schauten die Gastarbeiter teils irritiert auf die Deutschen. Sie zitieren im Buch eine jugoslawische Gruppe. Von wegen multikulturell, so der Tenor. Auf den Festen träfen sich fast nur deutsche Studenten und Freaks.
Ich glaube, im Westend war es da schon anders. Weil es das Griechische Haus schon gab oder das Freizeitheim, das heutige Multikulturelle Jugendzentrum, da gab es auch schon griechische Sozialarbeiter. Die Community war schon einbezogen. In Schwabing war es sicher stärker das deutsche, alternative Milieu. Und die Stadtpolitik um OB Hans-Jochen Vogel fand die Feste super, hat da schnell auch Grußworte gesprochen. Da ging auch wieder ein Stück subversiver Charakter verloren. Heute werden diese Stadtteilfeste ja vom Kulturreferat gefördert.
Das sind die Notstandsgesetze
Die Notstandsgesetze wurden 1968 zur Zeit der ersten Großen Koalition in Bonn verabschiedet. Dem Verfassungstext wurde somit eine Notstandsverfassung beigefügt, um die Handlungsspielräume der Staatsorgane in einer Krisensituation zu erweitern – aber auch um die Grundrechte einzuschränken. Im Fall eines inneren oder äußeren Notstands kann seither ein "Notparlament" zusammentreten. Außerdem darf auch die Bundeswehr gegen bewaffnete Aufstände im Inland eingesetzt werden. Angewendet wurden die Notstandsgesetze noch nie. In den Jahren nach 1968 aber galten sie Kritikern als Angriff auf die Demokratie und gaben so der Außerparlamentarischen Opposition Auftrieb.