2000 demonstrieren bei einer Mahnwache gegen Atomkraft. In der Stadt herrscht keine Panik, aber viele sind nachdenklich.
München - "Liebe Viele!“, begrüßt Bayerns Grünen-Chef Dieter Janecek die Demonstranten am Stachus. „Ich bin froh, dass ihr alle gekommen seid.“ Schon vor Wochen hatten Umweltschützer von Green City die Montagsdemo „Radau gegen Atomenergie“ angekündigt. Nach den Ereignissen in Japan wurde die Veranstaltung in eine Mahnwache umgewandelt. Etwa 3000 Münchner sind zum Stachus gekommen, auch Liedermacher Konstantin Wecker ist dabei. Sie wollen aber nicht nur der Opfer von Japan gedenken. „Jetzt muss endlich was passieren“, sagt eine Frau, die mit ihrem achtjährigen Sohn gekommen ist.
Immer wieder erklingen die Rufe „Abschalten, Abschalten!“. Angeheizt ist die Stimmung noch durch die Ankündigung von Umweltminister Söder, Isar 1 abzuschalten. „Gestern hat er noch gesagt, unsere AKWs sind sicher. Was ist das für eine Politik?“, fragt Janecek.
Viele Demonstranten glauben nicht, dass das mehr als Wahlkampftaktik ist. Martin Glöckner, Geschäftsführer von Green City ruft ins Mikro: „Damit die Politiker ihre Versprechen von heute in zwei Monaten nicht wieder vergessen haben, müssen wir sie immer wieder daran erinnern“. Aus „Abschalten, Abschalten“ wird zwischenzeitlich „Abwählen, Abwählen!“ Nach der Veranstaltung ziehen viele Demonstranten über die Eon-Zentrale an der Brienner Straße weiter zur Staatskanzlei.
Laut Polizei versammelten sich auch dort noch rund 3000 Menschen.
Schon tagsüber war die Katastrophe das beherrschende Thema. „Help for Japan, Help for Japan“, ruft eine Frau um die Mittagszeit am Marienplatz. Eriko Y. ist Japanerin und sie hat sich mit ihrem 13 Monate alten Sohn hierher gestellt, um Geld zu sammeln. „Die Münchner sind so hilfsbereit, ich stehe hier seit 30 Minuten und habe schon über 100 Euro gesammelt.“ Eriko lebt in München, der Großteil ihrer Familie ist in Tokio, ihre Großmutter wohnt in Fukushima, ganz in der Nähe der betroffenen Reaktoren. Sie hat überlebt. Eriko aber will helfen. „Ich werde das Geld zur japanischen Botschaft bringen.“
Am Rindermarkt macht Unternehmerin Silke Berger Mittagspause. „Es tut mir unglaublich leid, was dort passiert ist“, sagt sie. Es geht um Mitgefühl für die Opfer. Aber nicht nur. Die Bilder von qualmenden Atomkraftwerken bringen auch viele zum Nachdenken, die sich sonst schwer erschüttern lassen. „Ich fühle mich nicht konkret unsicher. Aber wir sollten Lehren aus Japan ziehen“, sagt Berger.
Caroline Soares Kaufmann hat ihren Sohn aus der Schule abgeholt. Er ist sieben und er stellt Fragen zur Katastrophe. „Ich habe schon Angst“, sagt sie. „Davor, dass bei uns auch irgendwann etwas passiert“, erklärt die dreifache Mutter. „Es werden einem die Gefahren wieder bewusst“, sagt auch ihre Freundin Susanne Hirschmann. Das Unglück von Tschernobyl erlebte sie als Kind. „Meine Eltern haben sich damals gegen Atomkraft engagiert.“ Heute hat sie selbst drei Kinder und ist sehr skeptisch. „Ich glaube, bei uns hat die Atomlobby zu viel Macht.“ Auch am Viktualienmarkt wird diskutiert. „Da ist doch Panikmache“, findet Kunstschmied Gerard Maro. „Es ist kein zweites Tschernobyl und es wird auch keines.“ Früher hat er sich mit dem Thema wenig beschäftigt, jetzt spricht er von Meilern und Windrädern.
In Berlin berichten Apotheker, dass Kunden vermehrt nach Jod-Präparaten fragen – im Grunde völlig abwegig, denn Jodtabletten brächten nur etwas, wenn direkt über Deutschland eine Wolke wäre. Der Apothekerverband rät ausdrücklich von der Einnahme ab. Aber die Reaktion zeigt, welche Ängste bei manchen wieder aufkommen, mit welchen Aktionen die Menschen dem Gefühl der Ohnmacht begegnen wollen.
Japan ist weit weg, doch man braucht nicht lange zu suchen, dann ist es plötzlich doch ganz nah. Beim Donisl sitzen Rolf Marquardt und Kei Nakagawa. Sie sind in München, um das Spiel Bayern gegen Inter ins japanische Fernsehen zu bringen. „Ich komme aus dem Süden Japans, aber ich kenne viele, die Verwandte vermissen“, sagt Redakteur Kei Nakagawa. Rolf Marquardt ist Kameramann, stammt aus Hamburg und lebt seit dreißig Jahren in Tokio. „Die größte Sorge gilt meiner Frau, sie ist in Tokio“, sagt er. „Ihr geht es gut, soviel ich weiß. Aber Telefonkontakt ist sehr schwierig. Ich möchte sie so schnell wie möglich rauszuholen.“
Kei Nakagawa wird bald zurückfliegen. Er ist immer noch geschockt. „Erdbeben sind wir in Japan gewöhnt, wir haben gelernt, mit Katastrophen umzugehen“, sagt er. „Aber mit einem Atomunfall, damit hat niemand gerechnet.“ Marquardt zeigt seinem japanischen Kollegen jetzt trotzdem das Hofbräuhaus. „Solange wir nichts tun können, versuchen wir, normal weiter zu machen.“