Demokratie-Experte Roman Huber über die Spaltung in der Gesellschaft: "Die Menschen klinken sich aus"

München - Roman Huber (Jahrgang 1966) ist geschäftsführender Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V. Er hat mehrere Volksbegehren auf den Weg gebracht und hat mit seiner Kollegin Claudine Nierth die Bürgerräte für den Bundestag organisiert, von denen der erste am Wochenende seine Arbeit aufgenommen hat. Nun haben die beiden ein Buch über den Zustand der Gesellschaft geschrieben.
AZ: Herr Huber, Ihr Buch heißt "Die zerrissene Gesellschaft". Sind die aktuellen Rekord-Umfragewerte der AfD ein Beleg für diese Zerrissenheit?
ROMAN HUBER: Ich denke schon. Da zeigt sich, dass in der Gesellschaft etwas passiert, was viele hilflos macht. Auf der Gesellschaft lastet Stress, weil es eine ganze Reihe von Dauerkonflikten gibt: erst Corona, dann der Angriffskrieg auf die Ukraine, Energiekrise und Inflation. Das verursacht Wut und Angst. Darunter liegt eine große Erschöpfung: Es ist alles zu viel, zu plötzlich, zu gleichzeitig. Man soll anders heizen, anders essen, anders reden, sich anders fortbewegen.
Roman Huber über Migration: Die Angst vor dem Fremden schlummert in jedem
Und aus dieser Gemengelage manifestieren sich die Bruchlinien?
Die Risse entstehen, weil oft Menschen ihre Wut oder Angst nicht artikulieren können oder, wenn sie es tun, manchmal in eine komische Ecke geschoben werden. Wenn man aber mit einer moralisierenden Attitüde in eine bestimmte Richtung gedrängt wird, verhärtet sich das Ganze. Die Menschen fühlen sich nicht mehr gehört, übergangen und klinken sich aus. Sie sinken in ihre Blase ab. Dann kommen die Populisten ins Spiel, instrumentalisieren die Enttäuschungen und Ängste der Menschen, und versprechen simple Antworten.

Die Union gibt der Dauerstreiterei der Ampel die Schuld an der Misere. Gehen Sie da mit?
Nein. Die meisten dieser Themen haben eine viel längere Vorgeschichte. Es wird oft vergessen, dass zu Beginn der Corona-Pandemie noch die Große Koalition im Amt war – da kann sich die Union jetzt nicht wegducken. Auch Migration und den Klimawandel gibt es nicht erst seit vorgestern.
Welche Rolle spielt Angst im Hinblick auf die Gesellschaft?
Nehmen wir einmal das Thema Migration: Die Angst vor dem Fremden schlummert in jedem. In der Menschheitsgeschichte waren viele Ängste ein Überlebensvorteil. Wenn man das aber nicht ausdrücken kann, weil es sofort als ausländerfeindlich bewertet wird – also etwa, dass sich meine Frau nachts in der U-Bahn mit vielen Fremden ängstlich fühlt –, dann haben wir ein Problem. Menschen können Angst haben und trotzdem wach und erwachsen damit umgehen. Deswegen sind sie nicht gleich Ausländerfeinde. Wenn solche Themen aber nicht mehr ausgesprochen werden können, ohne dass gedisst wird, werden sie verschwiegen, verschluckt und weggedrückt. Und alles, was weggedrückt wird, kommt irgendwann ungut wieder hoch.
Was tun, wenn es Streit gibt? "Nicht alle Konflikte lassen sich schnell lösen"
Welche Ängste haben Sie noch beobachtet?
Thema Klimawandel: In Griechenland brennen die Wälder, in Brandenburg entstehen Staubwolken, das Wasser wird weniger. Die Angst vor diesen Veränderungen ist berechtigt. Das Problem ist nur, dass es dafür keine einfachen Lösungen gibt. Wir haben keine schnellen Antworten darauf. Das macht Angst.
Was geschieht, wenn so viel Furcht in der Gesellschaft herrscht?
Es lähmt den Veränderungswillen, die Kreativität, den Willen, sich zusammenzusetzen und Sachen anzupacken. Es ist wie bei einem Eisberg. Der größte Teil liegt unter der Wasseroberfläche. So ist es mit unserem Ich. Vieles ist unscharf und verliert sich im Dunkeln. Das Unbewusste bestimmt aber letztlich unser politisches Handeln viel mehr als die politische scheinbare Vernunft. Wenn wir diese Themen sichtbar machen und integrieren, tun wir das, um wieder handlungsfähig zu werden. Darum geht es. Wir wollen Leute in die Lage versetzen, wieder politisch aktiv zu werden.
Können Sie das konkretisieren?
Sagen wir, eine Kommune will CO2-neutral werden. Dann genügt es nicht, dass es einen Bürgerrat gibt, der mit der Politik ein paar Ideen entwickelt. Man muss alle miteinbeziehen: die Zivilgesellschaft, die Unternehmer, Politik, Verwaltung. Es braucht schließlich eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um dem Klimawandel zu begegnen. Wenn sich dann etwas verhakt, wenn es Streit gibt, muss man sich fragen: Auf welcher Ebene sind wir gerade, können wir Sach- und emotionale Themen noch auseinanderhalten? Können wir klar machen, wer wo steht? Nicht alle Konflikte lassen sich schnell lösen, aber dann kann man wieder weiterarbeiten und nach vorne schauen.
Noch immer gibt es im Osten das Gefühl, übernommen und nicht respektiert worden zu sein
Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch auch mit kollektiven Traumata. Welche Rolle spielen die in Bezug auf die Gesellschaft?
Als Russland begann, die Ukraine anzugreifen, gab es etwas wie ein gesamtgesellschaftliches hyperaktiviertes Nervensystem. So ein Flirren, das jeder irgendwie gespürt hat, im Osten übrigens stärker als im Westen. Unsere Großväter oder auch Väter waren genau in diesen Gegenden im Krieg und haben schlimmste grausame Dinge erlebt, die wir quasi zellulär vererbt bekommen haben. Das wurde dadurch unbemerkt aktiviert. Das zeigt: Die Gewalterlebnisse unserer Vorfahren beeinflussen unser Zusammenleben bis heute. Deshalb braucht es Aufarbeitung – kein Schweigen wie in der Nachkriegszeit. Im Osten hat sich über die Holocaust- und Dritte-Reich-Thematik noch die DDR-Diktatur gelegt, die nicht in genügendem Maße aufgearbeitet werden konnte. Vermutlich sind auch deshalb im Osten die Umfragewerte der AfD höher als bei uns.
Sie haben ein Forschungsprojekt zu kollektiven Traumata initiiert. Wie lief das ab?
Wir wollten kollektive Traumata sichtbar machen und untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen kollektiven Traumata und Demokratiefähigkeit gibt. Dazu haben 350 Menschen in großen und kleinen Runden ihre Geschichten geteilt. Die Themen waren Corona, Krieg und am meisten Druck war auf dem Thema Ost-West-Deutschland: auf der Spaltung des Landes und dem Gefühl des Ostens, übernommen worden zu sein, wie ausgesogen und nicht respektiert zu sein.
"Wenn man sich heute Diskussionen in Talkshows anschaut, findet ja kein Gespräch mehr statt"
Welche Schlussfolgerung haben Sie daraus gezogen?
Dass wir in der Politik andere Formate brauchen, bei denen auch diese Themen sichtbar gemacht werden können, ohne dass jemand beschämt oder anderen die eigene "Moral" drübergekippt wird. Damit werden wir wieder fähig, uns zu begegnen und ehrlich politisch auszutauschen. Wenn man sich heute Diskussionen in Talkshows oder im Bundestag anschaut, findet da ja eigentlich kein Gespräch mehr statt. Da prallen Positionen aufeinander. Man bildet den Anderen nicht mehr in sich ab und versucht nicht mehr wirklich zu verstehen, worum es ihm geht, eine Lösung zu finden und zusammen zu kommen. Aber genau das brauchen wir: Wir brauchen mehr kollektive Intelligenz und deswegen müssen wir fähig werden, diese untergründigen Themen auch im Politischen zu bearbeiten.
Sie zitieren eine Teilnehmerin mit den Worten, eine Option könnte sein, "dass wir in gegenseitiger Anerkennung unserer Ängste eine zukunftsfähigere Gesellschaft mitgestalten können". Ist das die Lösung?
Genau so ist es.
Wie könnte ein Format aussehen, in dessen Rahmen sich so etwas realisieren lässt?
Die Staatskanzlei Brandenburg hat uns eingeladen, in vier Gemeinden ein Pilotprojekt umzusetzen, um genau das gemeinsam mit Bürgermeistern, Gemeinderäten und Bürgern auszuprobieren: dass nicht nur die linken Progressiven zusammensitzen, die Konservativen oder die AfDler, sondern dass wir die Lager zusammen bringen und gemeinsam schauen, was es dazu braucht – an Vertrauen, an Begegnung, an Moderation und gemeinsam erarbeiteten Kommunikationsspielregeln.
Roman Huber glaubt daran, dass "die Menschen vernünftig sind, glücklich und sozial sein wollen"
Sie haben viel mit Politikern zu tun. Wie reagieren die auf Ihre Vorschläge?
Zunehmend viele Abgeordnete wissen ganz genau, wovon wir reden, weil sie es täglich erleben. Viele wissen, dass es so nicht weitergeht. Dann höre ich oft: Wir müssen die repräsentative Demokratie stärken. Bloß wie? Die Antwort lautet in der Regel: Gehe in eine Partei oder werde ehrenamtlich tätig. Das sind die Antworten, die es seit 20, 30 Jahren gibt, die aber nichts verändert haben. Das ist mit ein Grund dafür, dass wir mit den Bürgerräten angefangen haben. Wir von Mehr Demokratie e.V. kommen ja von Volksentscheiden und der direkten Demokratie her, haben aber gemerkt, dass Bürger- oder Volksentscheide auch Spaltungen vertiefen können. Deshalb brauchen wir zusätzlich Kooperationsinstrumente, Konsens-Formate, Gesprächsangebote. Wenn dann zum Beispiel ein Bürgerrat eine Reihe von Ideen entwickelt, kann man darüber abstimmen lassen – aber dann hat diese Begegnung und das Vertrauenbilden schon vorher stattgefunden.

Sind Sie zuversichtlich, dass sich die gesellschaftlichen Risse wieder schließen?
Ja – aber nicht kurzfristig. Ich glaube an die Menschen und daran, dass jeder im Grunde vernünftig ist, glücklich und sozial sein will.
Das Buch "Die zerrissene Gesellschaft. So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter" von Roman Huber und Claudine Nierth ist gerade im Verlag Goldmann erschienen und kostet 18 Euro.