Demjanjuk vor dem Richter - der Prozess des Jahres

MÜNCHEN - John Demjanjuk, der mutmaßliche Kriegsverbrecher, steht ab Montag in München wegen Mordes vor Gericht – erhalten tausende KZ-Opfer jetzt endlich Gerechtigkeit? Die AZ klärt die wichtigsten Fragen zum Mammut-Verfahren
Es ist der Prozess des Jahres und der Angeklagte mittlerweile ein alter Mann. Ab Montag muss sich John Demjanjuk (89) vor dem Münchner Schwurgericht verantworten. Der gebürtige Ukrainer ist der erste Nicht-Deutsche, der hier als Nazi-Scherge angeklagt wird. Demjanjuk soll an der Ermordung von 27900 Menschen beteiligt gewesen sein. Das Interesse an seinem Fall überschreitet alles bisher Dagewesene: Über 250 Pressevertreter aus der ganzen Welt haben sich angemeldet. Die AZ beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wer ist John Demjanjuk?
Der Angeklagte wurde 1920 in der Ukraine geboren. Damals hieß er Iwan. Laut Staatsanwaltschaft geriet er 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft, wurde zum Helfer der SS ausgebildet. Nach Kriegsende arbeitete er in einem Flüchtlingslager in Landshut als Fahrer, 1952 flüchtete er in die USA, sechs Jahre später erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er arbeitete in Ohio bei Ford und bekam mit seiner Frau Wera drei Kinder.
Was wirft man ihm vor?
Demjanjuk soll ein sogenannter Trawniki gewesen sein, einer jener rund 3000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nazis ab 1942 als Handlanger beim Massenmord an den Juden heranzogen. Im Vernichtungslager Sobibor im damals besetzten Polen soll er als Wachmann dafür zuständig gewesen sein, die deportierten Juden von den Zügen in die Gaskammern zu treiben und soll so an der Ermordung von 27900 Menschen beteiligt gewesen sein.
Demjanjuk wurde schon einmal der Prozess gemacht – warum?
Der 89-Jährige wurde bereits 1988 in Jerusalem wegen seiner Vergehen als KZ-Wächter angeklagt und zum Tode verurteilt. Man hielt ihn für Iwan, den Schrecklichen, der die Gaskammern in Treblinka bediente. Weil jedoch Zweifel an seiner Identität aufkamen, wurde der mittlerweile Staatenlose 1993 in Israel freigesprochen.
Warum wurde dann wieder gegen ihn ermittelt?
Bei der NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg (Baden-Württemberg), die mit der Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen betraut ist, stieß man im Rahmen einer Recherche zufällig auf den Namen Demjanjuk und den Hinweis, dass ihm die USA die Staatsbürgerschaft aberkennen wollen. „Das hat uns stutzig gemacht“, sagt Kurt Schrimm, Leiter der Fahndungsstelle. Daraufhin ermittelten zwei Mitarbeiter über acht Monate und trugen Material aus Israel und Washington zusammen.
Welche Beweise gibt es gegen Demjanjuk?
Das wichtigste Beweisstück ist ein SS-Dienstausweis mit der Nummer 1393. Auf dem Dokument steht, dass Demjanjuk 1943 Aufseher in Nazi-Vernichtungslagern war. Demjanjuks Anwälte bezweifeln die Echtheit des Ausweises, der Angeklagte selbst schweigt bisher zu den Vorwürfen. Weiterer Beweis: Eine Verlegungsliste von März 1943 soll nachweisen, dass der 89-Jährige damals nach Sobibor verlegt wurde.
Demjanjuk ist gesundheitlich angeschlagen. Wie lange kann pro Tag verhandelt werden?
Seit seiner Abschiebung aus den USA im Mai 2009 sitzt Demjanjuk in der Krankenabteilung der Haftanstalt München-Stadelheim in Untersuchungshaft. Ende Mai erlitt der Angeklagte einen Gicht-Anfall und musste drei Tage ins Harlachinger Krankenhaus. Ärzte haben ihn bei der jüngsten Untersuchung für verhandlungsfähig erklärt. Am ersten Verhandlungstag werden drei Ärzte zu Demjanjuks Gesundheitszustand Stellung beziehen. Klar ist schon jetzt: Der Angeklagte ist drei Stunden am Tag verhandlungsfähig. Bis 6. Mai 2010 sind 35 Verhandlungstage angesetzt.
Wie viele Zeugen und Nebenkläger werden zum Prozess kommen?
„Das kann man nicht genau beantworten“, sagt Staatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch. „Von den 23 Zeugen ist bereits einer verstorben, bei vier anderen ist die Adresse nicht bekannt.“ In diesen Fällen hat die Staatsanwaltschaft Rechtshilfeersuchen an Russland geschickt, die bisher noch nicht beantwortet wurden. Daher kann erst während des Prozesses entschieden werden, ob Video-Befragungen gemacht oder Vernehmungsprotokolle verlesen werden müssen.
Erwartet werden auch zwei Überlebende des Vernichtungslagers Sobibor: Thomas Blatt und Philip Bialowitz gelang beim Lageraufstand 1943 die Flucht. „Sie sind für den 19. Januar als Zeugen bestellt“, sagt ihr Anwalt Stefan Schünemann. Auch die Zahl der Nebenkläger ist unklar, Ende Oktober waren es 35. Die meisten sind Angehörige von in Sobibor Ermordeten. Eine besondere Rolle im Prozess wird die Aussage eines ukrainischen Ex-KZ-Wachmanns sein. Er bestätigte in einer ZDF-Dokumentation (Ausstrahlung am 30. November um 20.15 Uhr im ZDF-Infokanal), dass er zusammen mit Demjanjuk im KZ-Lager Flossenbürg Dienst getan und mit ihm noch nach dem Krieg zusammen gewohnt habe.
Warum findet der Prozess in München statt?
Dass in München verhandelt wird, hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Dezember 2008 entschieden. „Grundlage der Entscheidung war der Aufenthalt Demjanjuks in einem Auffanglager in Feldafing nach dem Krieg“, sagt Thomas Steinkraus-Koch. Wenn es keinen letzten Wohnsitz in Deutschland gibt, kann der BGH nach Ermessen das Verfahren einer bestimmten Staatsanwaltschaft zuweisen. Der BGH hatte das Verfahren der Staatsanwaltschaft München II zugeordnet. Da München I aber unter anderem wegen des Verfahrens gegen Wehrmacht-KompanieführerScheungraber spezialisiert ist, bekam diese den Fall.
Wie viele Zuschauer können die Verhandlung verfolgen?
Es herrscht Platznot: Für Zuschauer und Pressevertreter gibt es 147 Plätze. Doch es haben sich über 250 Journalisten aus aller Welt angemeldet. Eine Videoübertragung ist aus rechtlichen Gründen nicht möglich.
Wird der Demjanjuk-Prozess der letzte seiner Art in München sein?
„Das kann man nicht sagen“, sagt Steinkraus-Koch. Schließlich führen die Ludwigsburger Ermittler ja auch in anderen Fällen Vorermittlungen.
Verena Duregger, John Schneider