Demjanjuk-Prozess: "Das ist eine Show!"
MÜNCHEN - Der mutmaßliche Kriegsverbrecher John Demjanjuk schließt am ersten Prozesstag die Augen und rührt sich kaum. Sein Anwalt bezeichnet ihn als Opfer der Nazis – und sorgt damit für Empörung.
Die Augen hat er geschlossen. Und das wird den Rest des Verhandlungstages auch so bleiben. John Demjanjuk, 89, liegt in seinem Rollstuhl. Sein Kopf ruht auf einer Nackenstütze. Er trägt einen Leder-Blouson, Baseball-Mütze und Turnschuhe. Sein Körper ist in eine hellblaue Decke gehüllt. Fünf Menschen, darunter zwei Sanitäter, schieben ihn in den Schwurgerichtssaal.
Es ist kurz nach elf Uhr. Mit einer Stunde Verspätung beginnt der Prozess gegen ihn – es wird wohl einer der letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse weltweit sein. Demjanjuk soll nach Auffassung der Münchner Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord an 27.900 jüdischen Männern, Frauen und Kindern geleistet haben. Als ukrainischer Kriegsgefangener soll er im Alter von 22 Jahren von der SS im berüchtigten Lager Trawniki zum Wachmann ausgebildet worden sein.
Mit anderen „Trawniki“ soll er im Jahr 1943 im Vernichtungslager Sobibor in Ostpolen geholfen haben, Juden in Gaskammern zu treiben. Nach jahrelangem Hin und Her war er im Mai dieses Jahres von den USA nach Deutschland abgeschoben worden.
Demjanjuk lässt seinen Anwalt reden
Was geht in ihm vor? Was sagt er zu den Vorwürfen? Nichts. Demjanjuk liegt in seinem Rollstuhl und schließt die Augen. Ab und zu bewegt er die Lippen. Kameras surren, Foto-Blitze zucken. Wenn Demjanjuk die Augen öffnen würde, könnte er vor sich die 19 Nebenkläger sehen. Thomas Blatt zum Beispiel, der in Sobibor überlebte, weil er bei einem Aufstand fliehen konnte. Oder Robert Cohen, der glaubt, dass Demjanjuk seinen Bruder auf dem Gewissen hat.
Demjanjuk lässt seinen Anwalt Ulrich Busch reden. Und der zückt einen „unaufschiebbaren Antrag“. Busch sagt, dass Demjanjuk die Richter und Staatsanwälte des Münchner Landgerichts für befangen hält. Er wirft ihnen Willkür vor. Der Grund: Nach dem Krieg seien SS-Leute, die in den Nazi-Lagern mordeten, von deutschen Gerichten freigesprochen worden. Busch nennt den Chef der „Trawniki“ und den Ausbildungsleiter der Wachmänner. „Ihr Freispruch wird hier und heute lebendig“, donnert Busch. „Ein kriegsgefangener Trawniki ist genau so einzustufen wie Juden, die für die Deutschen tätig wurden.“ John Demjanjuk sei Opfer, nicht Täter. „Er ist auf der gleichen Stufe wie Thomas Blatt.“
Der 40-minütige Monolog des Anwalts löst bei den Angehörigen der Opfer Empörung aus. Der Sobibor–Überlebende Jules Schelvis ruft: „Das ist Unsinn!“ Und Cornelius Nestler, Anwalt mehrerer Nebenkläger, erwidert: „Die Trawniki mordeten, die Juden nicht!“ Richter Ralph Alt stellt den Antrag zurück. Beachtlich ist, dass Demjanjuk bislang alle Vorwürfe bestritten hat, nach denen er ein „Trawniki“ gewesen sein soll.
Richter Alt fordert ihn auf, Angaben zu seiner Person zu machen – doch der antwortet nicht. Und so ist es der Richter, der um zwölf Uhr die Personalien feststellt. Danach lässt er drei Mediziner auftreten, die die Verhandlungsfähigkeit Demjanjuks feststellen. „Sehr höflich, äußerst zuvorkommend“, sei der Angeklagte, sagt einer der Mediziner und listet dessen körperliche Gebrechen auf: Bluthochdruck, Herzschwäche, Wirbelsäulenbeschwerden, Gicht, Beinschmerzen. „Kreislaufmäßig ist er stabil.“ Zweimal 90 Minuten pro Verhandlungstag dürfen Demjanjuk vor Gericht zugemutet werden. Mittags kann er sich in einem Extra-Krankenzimmer im Gericht ausruhen. Am Nachmittag klagt er dann auch über Unwohlsein, die Verhandlung wird kurz für seine Behandlung unterbrochen, dann geht es weiter. Zur Verlesung der Anklage kommt es aber am ersten Tag nicht mehr.
„Das ist eine Show, der Mann will öffentlich krank erscheinen“, sagt Efraim Zuroff, der Direktor des Wiesenthal Centers in Jerusalem. Und Thomas Blatt sagt: „Ich suche nicht Rache wegen damals. Ich will, dass er die Wahrheit sagt.“ Mary Richheimer, die ihre Eltern und Großeltern in Sobibor verlor, sagt: „Er macht nur Theater. Er ist verantwortlich für die Taten.“
Volker ter Haseborg/John Schneider
Video: Demjanjuk-Prozess gestartet: