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Debatte über Sommerspiele: Väterchen Timofej hält stand

Der Schwarzbau des russischen Eremiten Timofej bleibt nach Protesten bestehen. AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz über eine besondere Debatte der Sommerspiele, die er hautnah begleitet hat.
von  Karl Stankiewitz
Timofej ruht vor seinem Häuschen.
Timofej ruht vor seinem Häuschen. © imago/Heinz Gebhardt

München - Der eisige Wind des Jahreswechsels 1971/72 schüttelt die Datscha und lässt das glitzernde Stanniol, womit die ganze Decke des Holzhäuschens verkleidet ist, mit leisen, weinenden Tönen erklingen. Unter einem Leuchter voller Christbaumkugeln steht der Eremit und singt und betet. Ganz allein, eine halbe Stunde oder länger.

In russischer Sprache. Über den hochgeschlagenen Kragen des grünen Lodenmantels wallt das schlohweiße Haar. Väterchen Timofej sieht aus wie der Weihnachtsmann aus dem Kinderbuch. Er küsst die Ikonen, löscht die Kerzen, schlurft zur Tür. Er ist doch schon alt geworden. "2000 Jahr", behauptet er brummig. Und müde des Kampfes ist er auch. Am Fenster, dem gestickten Zarenadler gegenüber, hängt ein schwarzes Tuch. "Schlächte Zeit", seufzt der Einsiedler.

Draußen wirft ein Schaufelbagger einen gewaltigen Erdwall auf. Die Olympischen Spiele rücken hautnah heran an die 6.000 Quadratmeter große Idylle am Rand des Oberwiesenfelds. Mit Lärm, Menschen und Maschinen. Die winzige heile Welt, das Fleckchen Altrussland inmitten Europas größter Baustelle - wird es den Trubel des nächsten Jahres überstehen?

"Haben gelernt, dass Timofej zu den drei Heiligtümern der Münchner gehört"

Sie haben Angst, die beiden Alten: Timofej und Natascha, seine 75-jährige Lebensgefährtin. Zuletzt hat gar das Landgericht entschieden, Timofej Wassilij Prochorow und Frau müssen die auf ehemaligem Wehrmachtsgelände "in Besitz genommene Fläche unverzüglich verlassen und an die Beklagte herausgeben"; die Beklagte ist die Bundesrepublik Deutschland. Zwar ist den Bedrängten nach der Intervention vom Stadtvater Hans-Jochen Vogel und einer gewaltigen Pressekampagne amtlich abermals versichert worden, dass sie nun doch nicht vertrieben werden sollen aus ihrem Paradiesgärtlein.

Eher wollen die Münchner den preußischen Generalsekretär des Olympischen Komitees Herbert Kunze vertreiben als die beiden Russen. In Briefen heißt es: "Ihr baut ein neues München, eine Weltstadt mit kaltem Herzen." Das wollen die Olympia-Bauer angesichts des öffentlichen Interesses nun doch nicht. Sie lassen das geplante Stadion anderswo bauen, wenn auch teurer. Sie verzichten sogar auf 2.700 Parkplätze zugunsten der kleinen Einsiedelei und pflanzen 27 Bäume ringsum - wohl nicht so sehr aus grünen Gründen, sondern um die eh schon versteckte illegale Idylle noch besser vor der großen Welt zu verstecken.

Sie haben es tatsächlich geschafft: Timofej und seine Lebensgefährtin Natascha bei den Sommerspielen im Olympiastadion.
Sie haben es tatsächlich geschafft: Timofej und seine Lebensgefährtin Natascha bei den Sommerspielen im Olympiastadion. © imago images/Heinz Gebhardt

"Wir haben gelernt, dass Väterchen Timofej zu den drei Heiligtümern der Münchner gehört, neben den Alleebäumen und den Dackeln", sagt Gerhard Spiegel, Sprecher der Olympia-Baugesellschaft. Im Plan wird das Kirchlein amtlich gekennzeichnet - durch ein Kreuz.

Als die Finanzbeamten erscheinen, wird es eng

Aber das alles kann die beiden Alt-russen nicht recht glücklich machen. "Nix haben Papier", klagen sie. Denn niemand hat ihnen das Verbleiben auf dem Gelände schriftlich verbürgt. Nur zum Fotografieren hat ihnen jemand mal ein Dokument in die Hand gedrückt - und gleich wieder weggenommen. Jetzt haben sie Angst, doch noch vertrieben zu werden. Zumal vor drei Monaten zwei Beamte vom Finanzamt erschienen waren und 20.000 DM Nachzahlung für die unrechtmäßige Nutzung des Staatsgrunds sowie fortan monatlich 50 DM Pacht verlangten.

Da nichts zu holen ist, ziehen die Finanzer wieder ab und melden sich nicht wieder. Die Zweisiedler leben von der Fürsorge, von selbstangebauten Früchten und dem Honig ihres Bienenvolkes, von ein paar Groschen in der Opferbüchse des Kirchleins und gelegentlichen Spenden. So hat kürzlich ein englisches Fernsehteam, das den ganzen Tag hier drehte, 20 Deutsche Mark hinterlassen.

Sie graben einen Brunnen, doch dürfen ihn nicht nutzen

Ein Dokument, dass sie wirklich bleiben dürfen - das wäre ihr schönstes Weihnachtsgeschenk gewesen. Sie hätten es im Vorraum der Kirche angenagelt, wie 1962 schon den Räumungsbefehl der Bundesvermögensstelle. Neben christlichen Sprüchen wie "Glaube, Liebe, Hoffnung". Aber weder in der Baugesellschaft noch im Komitee ist jemand bereit, so ein Schriftstück auszufertigen.

Wenn schon "nix Papier", so wären die Russkije vom Oberwiesenfeld heilfroh, wenn ihnen die Olympier wenigstens elektrischen Strom und eine Wasserleitung gebaut hätten. So haben sie an manchen Wintertagen "20 Stunden Nacht".

Nur eine Ölfunzel brennt in der guten Stube. Sie wirft einen matten, fast magischen Schein auf vergilbte Fotografien der Zarenfamilie, auf ein Bild von Papst Johannes und ein signiertes Blatt vom berühmten Friedensreich Hundertwasser, das der Wiener Maler dem Väterchen persönlich überbracht und das Timofej über dem Fenster aufgehängt hat wie ein Handtuch zum Trocknen.

Mit dem Wasser ist es auch so eine Not. Sie hatten sich einen Ziehbrunnen gegraben. Aber das Gesundheitsamt hat ihnen streng verboten, daraus zu trinken. Jetzt müssen sie mühsam das Regen- und Schmelzwasser sammeln, wenn sie sich eine Suppe kochen oder Tee bereiten im silberglänzenden Samowar. "Wir viel beten und Gott schicken Wasser", vertrauen sie mit biblischer Ruhe auf die "Heilige Dreifaltigkeit Ost-West", der sie ihre beiden kuppelbekrönten Kirchlein gewidmet haben.

Zu den Spielen gibt es eine Aussichtsplattform mit Timofej-Blick

Gottlob schenken ihnen olympische Bauarbeiter und Bundeswehrpioniere gelegentlich Bauholz zum Feuermachen. Aber die Olympier haben die beiden Leutchen auch etwas einsamer gemacht: Sie streuten Mäusegift aus, damit die Zierbäume in den Pflanzkübeln nicht angenagt werden. An dem Gift sind jetzt die 18 Jahre alte Katzenoma Olonischka und sieben andere Katzen elend krepiert. "Ich weinen", berichtet Natascha.

Ein Weihnachtsgeschenk erhielten sie nun doch noch. Wenn sie wenigstens etwas sehen könnten von den Olympischen Spielen vor ihrem Gartenzaun, das wäre eine Riesenfreude, hatten sie mir, dem Reporter, anvertraut. Spezielle Wünsche wegen der Sportarten hat Väterchen nicht: "Alles will sehen." Und Natascha begründet: "Wenn einmal im Himmel, und lieber Gott fragen, was du wissen von olympisch, ich muss sagen: nix." Als ich dem Oberolympier Willi Daume den Herzenswunsch der guten Nachbarn übermittelte, erklärten sich dieser und andere hohe Herren spontan bereit, den Sportfreunden von nebenan ein paar Eintrittskarten aus eigener Tasche zu spendieren.

Im Opferstock sammeln sich Münzen aller Länder

Sie werden also die Welt sehen - und die Welt wird sie sehen: diese Gestalten aus einem modernen Märchen. Zumindest alle Besucher, die mit der Straßenbahn zum Oberwiesenfeld fahren, müssen eh über einen neugebauten Weg an der Einsiedelei vorbei. Schräg gegenüber hat man sogar eine kleine Aussichtsplattform eingeplant. Und direkt hinter dem Russengärtchen entsteht ein Rummelplatz mit 5.000 Plätzen, Bierausschank und Blasmusik.

Noch viele Jahre lebt er alleine in dem Schwarzbau.
Noch viele Jahre lebt er alleine in dem Schwarzbau. © imago images/Heinz Gebhardt

In Reihe 44 können die Bilderbuchrussen das Eröffnungsspektakel tatsächlich miterleben. Auch Sportler aus der Gottlosen-Welt finden während der Spiele den Weg ins versteckte Idyll. "Kommen Schwarz und Weiß und Russ und alles." Im Opferstock sammeln sich Münzen aller Länder. Das weiße Hemd unterm schlohweißen Bart ist voll gesteckt mit Abzeichen, als sei es die Uniform eines sowjetischen Generals. Nur, dass auf Väterchens Brust auch ein Kreuz baumelt.


Von Karl Stankiewitz ist soeben im Allitera-Verlag erschienen: "München 1972: Wie Olympia eine Stadt veränderte", 25 Euro

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