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Das müssen Sie diesen Sommer lesen: Münchner Buchhändlerinnen stellen in der AZ ihre Lieblingsromane vor

Sommerzeit ist Lesezeit. Was empfehlen Münchner Buchhändlerinnen für den Strand oder den Städtetrip? In der AZ stellen drei Literaturexpertinnen ihre drei Lieblingsbücher für die Ferienzeit vor.
von  Hüseyin Ince
Die Münchnerin Rachel Salamander beschäftigt sich traditionell mit jüdischen Themen. Sie gründete einen Verein, der die Synagoge an der Reichenbachstraße restaurieren lässt.
Die Münchnerin Rachel Salamander beschäftigt sich traditionell mit jüdischen Themen. Sie gründete einen Verein, der die Synagoge an der Reichenbachstraße restaurieren lässt. © Daniel von Loeper

München - Die Sommerferien in Bayern sind in vollem Gange. Petrus verwöhnt uns mal mit schönster Sonne, mal ärgert er uns mit Dauerregen. Doch ob am Strand, auf der heimischen Couch oder unterwegs auf Urlaubsreisen: Ein guter Schmöker darf nicht fehlen. 

Drei Münchner Buchhändlerinnen wissen auch ganz genau, welche Bücher perfekt für den Sommer sind. In der AZ stellen sie ihre drei jeweiligen Favoriten vor.

Rachel Salamander, Literaturhandlung

Tipp 1: Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg' 46. Treffen am Abgrund. C.H. Beck Verlag, 2023

Alle waren sie da im Pressecamp auf Schloss Faber-Castell, dem Sitz der Bleistift-Dynastie. Erich Kästner, Willy Brandt, Golo Mann, Robert Jungk, Gregor von Rezzori, starke Frauen wie Erika Mann, Martha Gellhorn, Rebecca West, Berichterstatter und Reporterinnen aus Südamerika bis China. Unterschiedlicher hätte diese Gruppe nicht sein können: Exilanten, innere Emigranten, Kommunisten, Medienstars, Nazigegner, Mitläufer, Holocaust-Überlebende und Frontreporter.

Bei allen Spannungen einte sie eines: Sie wollten den in Nürnberg angeklagten Nazi-Größen ins Gesicht schauen, sehen und verstehen, wer das war, der so viel Unheil über die Menschheit gebracht hatte.

Uwe Neumahr gelingt es, ein höchst lebendiges, anekdotenreiches Bild dieses einmaligen Hotspots der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte zu zeichnen, des Ortes, an dem 1935 die "Rassegesetze" ausgerufen wurden, aber 1946 ein neues Kapitel der Geschichte mit der Berufung auf Menschenrechte und Völkerrecht bei den Nürnberger Prozessen aufgeschlagen wurde. "Weltliteratur begegnete Weltgeschichte" - es wurde gestritten und getanzt, viel getrunken und geflirtet, alle rangen um eine Sprache, mit der über das Menschheitsverbrechen Holocaust geredet und geschrieben werden konnte. Eine großartige Lektüre, die nachwirkt.

Tipp 2: Maxim Biller. Mama Odessa. Kiepenheuer & Witsch, 2023

Wieder einmal zeigt uns Maxim Biller meisterlich, was es heißt, in Diktaturen zu leben und wie sie Menschen zurichten. In Odessa, der legendären Hafenstadt am Schwarzen Meer, berühmt für seine filmisch festgehaltene potemkinsche Treppe, schlägt die katastrophische Jahrhunderthälfte besonders hart zu.

Die jüdisch-russische Familie Grinbaum erfährt es am eigenen Leib. Der Großvater entkommt 1941 wie durch ein Wunder dem großen Nazi-Massaker an den Juden, der Vater des Erzählers entgeht später einem ihm geltenden KGB-Giftanschlag, der aber seine Ehefrau trifft. Nur zu verständlich, dass der Vater unbedingt das spätstalinistische Regime verlassen will und sich ein Leben ohne Verfolgung in Palästina erträumt. Aber weiter wie nach Hamburg, ins einstige jüdische Grindelviertel, von dem nichts mehr übrig geblieben ist, kommen sie nicht.

Ehefrau Alonja trauert Odessa nach, ist mit sich beschäftigt, erst recht, als ihr Mann sie ausgerechnet wegen einer Deutschen verlässt. Um ihren Sohn Mischa kümmert sie sich erst, als der ein berühmter Schriftsteller ist, ja mehr noch, sie eifert ihm nach und tritt zu ihm in Konkurrenz. "Mama Odessa" ist ein virtuos konstruierter Familienroman, der uns vorführt, dass trotz aller Spannungen bis hin zum Verrat, die Familie als quasi unabänderliche Bestimmung jedes Menschen, zusammensteht. Von der ersten bis zur letzten Zeile geraten wir in den Sog der Geschichte.

Biller versteht es, mal mit Ironie, mal mit Melancholie, immer aber in einem stillen, poetischen Ton die ganze Bandbreite der Familiendynamik aufzufächern, am schönsten ist doch die Mutter-Sohn-Beziehung. "Mama Odessa" erscheint im August, vorab gelesen, weiß ich, dass dieser Roman eines meiner Lieblingsbücher wird.

Tipp 3: Alexander Gorkow. Hotel Laguna. Kiepenheuer & Witsch, gebunden 2017, Taschenb. 2019

Hotel Laguna" ist ein sehr besonderes, ein ungewöhnlich vielschichtiges Buch. Auf den ersten Blick spielt hier die Insel Mallorca die Hauptrolle, Mallorca von einst in den 60er und 70er Jahren und Mallorca von jetzt. Zugleich verweist der Untertitel "Meine Familie am Strand" auf einen Familienroman.

In dessen Mittelpunkt steht das Porträt einer grandiosen Vaterfigur mit viel Geschichte, dessen Ahnen alles starke Persönlichkeiten waren. Ist das Buch zu Ende gelesen, vermisst man diese Gestalten regelrecht.

Die Stimmung der Erzählung lebt von der Rückschau in eine vergangene Welt, die mit viel weniger auskam als die heutige und doch viel mehr bot als die jetzige. Alexander Gorkow versteht es meisterlich, die Verbindung von damals und heute zu halten. "Hotel Laguna" zeigt zudem, was Tourismus und Reisen in der alten Bundesrepublik und auch gegenwärtig bedeuten.

Das Buch ist lebensklug und hervorragend geschrieben. Bestens recherchiert bietet es viel Informationen über Mallorca und vor allem kommen die Lebensgeschichten der mallorquinischen Dorfbewohner Canyamels so zauberhaft zu Wort. Mit Ironie und genauestens beobachtet bietet Alexander Gorkow viel Stoff zum Nachdenken. Es lohnt sich immer, im "Hotel Laguna" zu verweilen.

Marianna Geier, Buch und Bohne

Tipp 1: Mariette Navarro. Über die See. Kunzmann Verlag

Das ist zur Zeit mein Lieblingsbuch. Die Hauptfigur ist Kapitänin eines Containerschiffes mit 20 Mann Besatzung. Sie fragen, ob sie schwimmen dürfen, auf offener See. Sie erlaubt es.

Erst haben sie das Gefühl von Freiheit. Dann kommt die Krise, die Urangst der Einsamkeit. Vorher waren sie die großen starken Männer. Über ihnen schwimmt 120 Meter hoch Stahl. Es wird eine existenzielle Erfahrung für die Mannschaft. Sehr packend. Man spürt das richtig, diesen Kontrollverlust.

Es ist ein schmales, spannendes Buch. 150 Seiten, und sehr poetisch geschrieben. Mystisch. Am besten sollte man das am Strand lesen. Hauptsache kein Land in Sicht.

Im "Buch und Bohne" von Marianna Geier bekommen Kunden zur brandneuen Lieblingsliteratur auch eine Tasse Kaffee oder Cappuccino.
Im "Buch und Bohne" von Marianna Geier bekommen Kunden zur brandneuen Lieblingsliteratur auch eine Tasse Kaffee oder Cappuccino. © Daniel von Loeper

Tipp 2: Ulrich Woelk, Mittsommertage. C. H. Beck Verlag

Die Geschichte spielt in Berlin, im Sommer 2022. Es geht um eine Woche im Leben der Philosophie-Professorin Ruth Lember, die in den Ethikrat berufen wird. Ihr Leben ist eigentlich perfekt. Da kommt eine Geschichte von früher hoch, als sie radikale Umweltaktivistin war, in den 90ern.

Es tauchen Unterlagen auf, die beweisen sollen, dass sie eine gewalttätige Umweltterroristin war. Ihr Beruf und ihre Ehe geraten aus dem Takt. Sie versucht, die Kontrolle zu behalten, den ehemaligen Liebhaber zu bestechen, sie hat den Verdacht, dass ihr Mann vielleicht eine Affäre hat - und: Ihre Tochter ist wohl auch eine Umweltaktivistin. Das ist die perfekte Geschichte zu einer Städtereise.

Tipp 3: Percival Everett. Die Bäume. Hanser Verlag

Das ist Tarantino in Buchform, eine Mischung aus Trash und Literatur, Krimi und Roman. Ich habe so etwas noch nie gelesen. Derb, spannend. Es spielt in der Trump-Ära. Der Ort: Money, Mississippi. Eine White-Trash-Hochburg. Es ist Grillfest. Am nächsten Morgen ist der Vater der Hauptfigur tot, bestialisch ermordet. Neben ihm liegt ein Afro-Amerikaner, schlimm zugerichtet. Die Polizei kommt.

"Der N***", nennen sie ihn, ob er den Mord begangen haben könnte? Plötzlich verschwindet die Leiche und taucht bei weiteren zwei Morden auf. Es gibt eine wahre Geschichte dahinter: Eine Weiße hat in den 60ern behauptet, dass ihr ein Schwarzer hinterhergepfiffen hätte. Bruder und Vater haben ihn ermordet. Die Frau hat vor etwa zehn Jahren gestanden, dass das gar nicht gestimmt hat.

Bettina Roetzer, Giesinger Buchhandlung

Tipp 1: Toni Morrison. Rezitativ. Rowohlt Verlag

Mein Haupttipp ist erst kürzlich auf Deutsch erschienen. Es ist ein kleiner Text der Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Titel: Rezitativ. Eine sehr frühe Erzählung. Ich finde den Plot so spannend, weil er mit einem einfachen Kniff Rassismus ins Absurde führt.

Es geht um zwei Frauen, eine schwarze und eine weiße. Twyla und Roberta lernen sich als Achtjährige in einem Kinderheim kennen und sind für immer unzertrennlich. Sie verlieren sich aus den Augen, finden sich später wieder.

Und man erfährt als Leser oder Leserin bis zum Schluss nicht, wer von den beiden welche ist. Das Buch erschien erstmals 1983. Sympathisch, dass es nicht belehrend daherkommt.

Tipp 2: Karen Köhler. Miroloi. Hanser Verlag

Die Geschichte Miroloi erzählt von einer jungen Frau fast in Tagebuchform. Sie entspinnt sich auf einer kargen Insel, mit Menschen, die sich vom Rest des Lebens verabschiedet haben. Es herrscht ein archaisches System.

Die Autorin erklärt nicht, warum das so ist. Die Hauptfigur landet in der Gemeinschaft als Findelkind und kann keiner Familie zugeordnet werden. Die beiden Inselbewohner, die sie großziehen, bringen ihr Lesen bei, obwohl das verboten ist.

Das Buch kommt poetisch daher. Das finde ich faszinierend. Letztlich geht es um eine starke Frau, weil sich die Protagonistin im System emanzipiert, allen Widerständen entgegenstellt und immer stärker wird. Einmal wird sie beim Fluchtversuch erwischt und zur Strafe zusammengeschlagen. Auch das macht sie am Ende nur stärker. Das Buch sollte man auf einer Insel lesen.

"Die Leute brauchen echte Buchhandlungen", ist Bettina Roetzer überzeugt.
"Die Leute brauchen echte Buchhandlungen", ist Bettina Roetzer überzeugt. © Daniel von Loeper

Tipp 3: Jean-Claude Izzo. Die Marseille- Trilogie. Unionsverlag

Izzo war einer der ganz großen Sportjournalisten der 80er Jahre und 90er Jahre. Er hat leider erst sehr spät mit Literatur angefangen. Seine Trilogie spielt in der Stadt Marseille, die er über alles liebt. Es geht um einen alternden Kommissar, der mit den Menschen am Rande der Gesellschaft zu tun hat. Sexarbeiter:innen, Drogenhändler, Matrosen…

Viele üble Figuren spielen mit. Unterschiedlichste Menschen, viele Ausgebeutete. Eine sehr ungewöhnliche Kultur-Melange hat man da vor Augen.

Der Kommissar zieht sich abends zurück in sein Haus am Meer, hört John Coltrane. Da möchte man am liebsten daneben sitzen. Er denkt über die Stadt nach. Man fühlt, riecht und spürt da Marseille. Die Geschichte hat ihre dramatischen Seiten, ist aber kein Thriller. Ich finde, es ist Literatur, die sich am Krimi-Plot bedient. Der Kommissar ist eine wunderbare Figur, kein Held, total menschlich, manchmal krude. Aber er schaut genau hin und geht mit den Menschen gut um.

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