Das Ende einer Schwangerschaft: AZ begleitet Paar in die Abtreibungsklinik

München - Anna ist so erzogen worden: "Das ist halt so", hat sie gedacht, nachdem sie den Schwangerschaftstest gemacht hat. Anna wird Blähungen haben, Heißhunger, Hitzewallungen, Rückenschmerzen, Übelkeit und Schlaflosigkeit. Sie wird in den Mutterschutz gehen, ihr Freund wird sein Studium abbrechen, das er mit Ende zwanzig angefangen hat, sie werden die gerade gekaufte Wohnung vermieten oder verkaufen. Ihr Leben wird sich komplett verändern.
"Dann kam der Gedanke, dass ich es wegmache. Damit habe ich mich viel besser gefühlt", sagt Anna (33, Name geändert). Sie liegt im Ruheraum eines Münchner Abtreibungsarztes, es ist 8.15 Uhr, bis zu sieben Stunden wird sie in der Klinik für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch bleiben müssen. Ihr Freund wartet im Auto, er darf nicht in den Ruheraum. Anna erklärt sich bereit, dass die AZ ihre Abtreibung begleiten darf.
"Das Schlimmste war die Ungewissheit", sagt Anna
Vor sieben Wochen ist Anna schwanger geworden. Sie hat mit Temperaturmessung verhütet. Im Umzugsstress hat sie sich verrechnet. "Ich nehme hieraus mit, dass ich die Verhütung meinen Lebensumständen anpassen muss", sagt Anna.
Vor 16 Tagen hat sie bemerkt, dass sie schwanger ist. Eine Woche später hat Anna einen Termin bei ProFamilia in der Schwangerschaftskonfliktberatung – diese Beratung ist gesetzlich vorgeschrieben.
Nochmal eine Woche später sitzt sie beim Vorgespräch mit dem Abtreibungsarzt. "Das Schlimmste war die Ungewissheit. Ich war so erleichtert, als ich endlich hier gesessen bin."
Anna hat sich in diesen ungewissen zwei Wochen sehr gut informiert. Sie weiß, dass der Embryo in ihrem Bauch Ansätze von Händen und Füßen hat. Sie weiß, dass der Embryo seitlich Augen ohne Lider hat. Sie weiß, dass dieses blaubeergroße Wesen für ihren Freund den Abbruch seines Studiums bedeuten würde und für sie, dass sie erst einmal nicht mehr im Außendienst arbeiten kann.
Anna hat sich im Internet Videos von Abtreibungen angeschaut. Videos aus den 80ern zeigen, wie handgroße Kinder abgetrieben werden. Sie schaut sich Videos von sogenannten Lebensschützern an und über ihren Arzt. Sie entscheidet sich für die – wie sie sagt – "humanere Methode", für den schwierigeren Weg: Das Kind wird nicht abgesaugt, sondern durch Medikamente wird eine Fehlgeburt hervorgerufen.
Es gibt kein Zurück mehr
Vor 48 Stunden hat Anna drei Tabletten Mifegyne genommen, so dass die Schwangerschaftsschleimhaut zusammen mit der Schwangerschaft abblutet. Am selben Tag hat es angefangen zu bluten. Es gibt kein Zurück mehr.
In der Früh im Ruhezimmer hat Anna Cytotec-Tabletten genommen, die sich in ihren Backentaschen auflösen. Dadurch soll sich die Gebärmutter so zusammenziehen, dass die abgestorbene Schwangerschaft ausgestoßen wird. Bei fünf Prozent der Frauen scheidet der Körper nichts oder nur Teile aus. Bei einem Prozent sind die Blutungen zu stark. Dann muss doch operiert werden. Anna hat Angst.
Um 9 Uhr sagt Anna: „Jetzt fängt es an zu ziehen" und verzieht sich auf die Toilette. Sie muss brechen.
„Das ist nicht so schlimm wie die Blähungen und die Übelkeit, die ich die letzten Wochen hatte", sagt Anna. „Das will man gar nicht durchstehen, weil man weiß, es führt zu nichts."
Mit ihrem Freund geht Anna spazieren, das soll ihren Bauch lösen. Es regnet in Strömen, Hand in Hand geht das Paar die Außentreppen eines noch geschlossenen Möbelhauses hoch und wieder runter – Treppensteigen soll besonders gut sein.
Als Anna ihrem Freund zeigt, wo es wehtut, witzelt der: "Tritt es schon?"
Anna lacht und schüttelt den Kopf. Nach einer Stunde im Regen hat sie nasse Füße und ist erschöpft. Eine Viertelstunde zieht sich Anna in den Ruheraum zurück. Sie hat Durchfall, muss brechen.
Sieben Minuten dauert eine Operation
Derweil liegt im Operationsraum eine Frau, die schon vier Kinder hat. Sie sind wie ihr Mann in Bulgarien. Die Frau arbeitet hier und ist in der zwölften Woche schwanger. Wenn eine Frau schon Kinder geboren hat, ist die Abtreibung einfacher.
Die Frau liegt auf dem gynäkologischen Stuhl, die Beine fixiert, der Atem gleichmäßig. Sie steht unter Vollnarkose. Mit einem leisen Geräusch wird der Embryo durch einen matt-roten Schlauch abgesaugt.
Sieben Minuten dauert die Operation, 170 Milliliter landen in der Petrischale, eine Masse aus Gebärmutterschleimhaut, Mutterkuchen und Embryo. Ab der zehnten Woche sind embryonale Strukturen mit dem bloßen Auge erkennbar. Das, was mal ein Kind hätte sein sollen, ist durch die Absaugung auseinandergerissen. Wirbelsäule und Beinchen schickt der Arzt an die Pathologie. Die untersucht das Gewebe, in einer Sammelbestattung werden die Embryonen auf einem Sternenfriedhof beigesetzt.
100 Prozent Schmerzsteigerung
Um 10.40 Uhr gehen Anna und ihr Freund nochmal in den Regen. "100 Prozent Schmerzsteigerung", sagt Anna mit gequältem Lächeln. Eine schweigende Runde um das Möbelhaus schafft sie. Auf dem Rückweg bricht sie leise in die Wiese. Lange kniet sie auf dem Rad- und Fußweg, würgt, während ihr Freund sie hält.
Anna geht ein paar Schritte und wieder in die Knie. Vorsichtig versucht sie, einen Regenwurm vom Weg aufzuheben. Als sie es schafft, wirkt Anna kurz froh.
In der Klinik bewegt sie sich zwischen Bett und Toilette. Um kurz vor zwölf ist sie zum vorerst letzten Mal auf der Toilette. "Es ist draußen, ich habe es gesehen", sagt Anna. Sie wirkt erleichtert. Mit bloßem Auge, heißt es in der Infobroschüre, seien die embryonalen Strukturen noch nicht zu sehen.
Anna und ihr Freund dürfen nach Hause. In sieben Tagen wird sie zu einer Nachuntersuchung kommen. Bis dahin darf sie nicht weiter als 45 Minuten von der Klinik entfernt sein. "Körperlich und geistig ging es mir danach besser als zuvor", sagt sie zehn Tage später.
"Vor dem Wohnungskauf hätten wir gesagt, wenn es passiert, dann passiert es", sagt Anna. Sie hat jüngere Geschwister, auf die sie als Teenager aufgepasst hat. Anna weiß, dass Kinder nicht nur süß sind. Anna weiß, dass Kinder ein, zwei Leben komplett umkrempeln können.
"Ich wäre nicht todunglücklich, wenn wir kein Kind mehr kriegen könnten. Aber eines würde ich schon gerne großziehen, später – mit Schwangerschaft und Übelkeit, mit Babyzeit und allem, was eben dazugehört."