Darum legen die Erzieherinnen ihre Arbeit nieder

1527 Euro netto für 39 Stunden bei 117 Dezibel; davor fünf Jahre Ausbildungszeit: Viele städtische Angestellte empfinden das als ungerecht und wollen 200 Euro mehr.  
von  Jasmin Menrad
Keine Kinder, keine Erzieher: So schaut’s heute wohl in vielen der 423 städtischen Kindergärten, Krippen, Horten und Tagesheimen in München aus.
Keine Kinder, keine Erzieher: So schaut’s heute wohl in vielen der 423 städtischen Kindergärten, Krippen, Horten und Tagesheimen in München aus. © dapd

1527 Euro netto für 39 Stunden bei 117 Dezibel – und das nach fünf Jahren Ausbildungszeit: Viele städtische Angestellte empfinden das als ungerecht. 200 Euro mehr sollen es sein.

München - Die Stadt hat den 4800 Beschäftigten in den Kindergärten, Horten und Krippen einen Maulkorb verpasst.

Einen Tag vor dem Warnstreik dürfen sie nicht über die Gründe ihrer Arbeitsverweigerung reden. Darüber, was eine Erzieherin verdient und dass dieser Job mehr bedeutet als Singen und Spielen.

Ein Rechenbeispiel mit einer typischen Erzieherin:

  • Sie ist 25 Jahre alt, hat eine fünfjährige Ausbildung hinter sich, ein Jahr Berufserfahrung, ist in der Steuerklasse 1 mit einem Freibetrag für ein Kind, zahlt keine Kirchensteuer.
  • Monatlich bekommt sie 1527 Euro netto.
  • Sie arbeitet 39 Stunden die Woche bei einer Lautstärke bis zu 117 Dezibel – mehr als bei einem Rockkonzert.
  • Die Infektionsgefahr ist hoch, viele klagen über Rückenprobleme: Die Einrichtung ist auf kindgerechter Höhe, aber nicht rückenfreundlich für Angestellte.

Die städtischen Erzieherinnen möchten, dass ihre Arbeit und die Verantwortung, die sie tragen, sowie die lange Ausbildungszeit stärker gewürdigt werden. Deshalb fordern sie eine lineare Lohnerhöhung von 6,5 Prozent, mindestens aber 200 Euro für Gering- und Mittelverdiener. Ein Knackpunkt bei den Verhandlungen: Denn ein Arbeitnehmer müsste mindestens 3076 Euro verdienen, um bei einer Lohnerhöhung von 6,5 Prozent 200 Euro mehr zu bekommen.

Wer wenig verdient, für den können die geforderten 200 Euro eine massivere Lohnerhöhung bedeuten. Die Stadt ist bisher nicht bereit, das zu akzeptieren.

 

AZ-Meinung: Die AZ-Redakteure Thomas Gautier und Robert Braunmüller sind uneins über die heutige Arbeitsniederlegung von städtischen Erziehern.

Pro: Ich sag’ es besser gleich vorweg: Ich habe keine Kinder. Aber ich weiß trotzdem, wie das ist.

Im Jahr 2009, beim letzten Streik, besuchte ich für eine Reportage Anja, Erzieherin in einer städtischen Kita. Ich lief mit, stellte Fragen – und flüchtete nach fünf Stunden. Jawohl, ich hielt es nicht mehr aus. Die Zustände dort ähnelten denen in einem Sägewerk. Wenn Kinder schreien – und das tun sie offenbar gern –, entstehen Lautstärken von bis zu 117 Dezibel. Das ist lauter als eine Kettensäge in einem Meter Entfernung.

In dieser Lärmhölle lehrt, windelt, rennt und tadelt Anja stundenlang in gebückter Haltung, weil Kinder und Möbel so klein sind. Dafür bekommt sie etwa zehn Euro brutto die Stunde. Bauarbeiter kriegen 12 Euro. Allerdings: Anja hat fünf Jahre Ausbildung hinter sich.

Für diesen – ja – Hungerlohn leidet Anja in fünf bis zehn Jahren womöglich an chronischen Rücken- und Knieproblemen. Wie ein Fußballprofi am Ende seiner Karriere. Der erhält viel Geld dafür, dem Ball hinterher zu rennen. Anja aber schaut, dass Kinder nicht in Regalecken laufen. Oder auf die Straße.

Thomas Gautier

Contra: Ein Streik ist ein legitimes Mittel im Interessenkonflikt zwischen Tarifparteien. Wenn der Öffentliche Dienst für höhere Löhne kämpfen will, bitte! Allerdings verwechselt die Gewerkschaft Verdi, deren Mitglied ich übrigens auch bin, die Öffentlichkeit mit ihrem Arbeitgeber, wenn sie den Nahverkehr oder städtische Kinderkrippen bestreikt.

Ich bin nicht der Tarifpartner der städtischen Arbeitnehmer und somit die falsche Adresse. Trotzdem wird von mir heute selbstverständlich als Solidar-Opfer erwartet, dass ich ihnen einen Urlaubstag schenke, um meinen Sohn tagsüber selbst zu betreuen. Wenn man mich freundlich bitten würde, wäre darüber zu reden. Aber in meinem Fall gab es nur einen pampigen Wisch mit der Aufforderung, mich bei der Stadt oder dem kommunalen Arbeitgeberverband zu beschweren. Der öffentliche Dienst, der regelmäßig Unbeteiligte als Geiseln bei seinen Arbeitskämpfen nimmt, darf sich nicht wundern, dass seine Forderungen nicht besonders populär sind. Wie wär's mal damit, Christian Udes Büro samt Dienstwagen zu bestreiken?

Robert Braunmüller

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