Dachauer Todesschütze: Jetzt spricht der Richter
Vor Gericht begegnet der Dachauer Todesschütze dem Mann, den er ebenfalls töten wollte. Und wieder gerät der Täter in Rage.
München - Für Amtsrichter Lukas N. (36) muss es ein seltsames Gefühl sein, dass er vor Gericht im Zeugenstuhl sitzt. Und: Er hätte sterben sollen. Der Angeklagte in diesem Mordprozess Rudolf U. (55), hatte es auf ihn abgesehen. U. hat am 11. Januar im Dachauer Gericht eine Waffe gezogen, um sich geschossen. Zwei Schüsse haben den Staatsanwalt Tilman T. (†31) getötet; U. zielte auch in Richtung Richtertisch: Er feuerte vier Mal ab, bevor ihn zwei Prozessbeteiligte überwältigen konnten (AZ berichtete). Nun sagt Lukas N., der Richter, vor dem Schwurgericht München II aus.
„Die Bilder werde ich nie vergessen“, sagt er. „Freunde, Kollegen und die Familie haben mir geholfen, dass ich das verarbeiten konnte.“ Der Richter wirkt gefasst, ruhig und konzentriert.
Als Zeuge spricht er über den Tattag: Am 11. Januar steht der frühere Transportunternehmer U. wieder mal vor Gericht. Über 30 Prozesse hat er bereits geführt – und meist verloren. Diesmal geht es um nicht gezahlte Sozialbeiträge in Höhe von 40000 Euro.
Kurz nach 16 Uhr hat der Richter das Urteil geschrieben: „Ich sagte dann: ,Bitte erheben Sie sich’ und schaute auf meinen Zettel, um das Urteil zu verlesen. Neun Monate mit Bewährung und 900 Euro in Raten als Bewährungsauflage. Dann kam das Schussgeräusch. Eins, zwei.“
Lukas N. kann sich nicht genau erinnern, ob ihn der Protokollführer noch gewarnt hat, dass er sich ducken soll: „Ich bin sofort unter den Tisch. Der Protokollführer auch.“ Die Verteidigerin sucht ebenfalls Deckung hinter dem Richtertisch, der zur Vorderseite eine dicke Holzverblendung hat. „Nach gefühlten ein bis zwei Minuten hörte ich dann ein Rumpeln. Aus einer Richtung kam: ,Wir haben ihn!’“
Richter N. kommt sofort hinter dem Tisch hervor. Er geht zum angeschossenen Staatsanwalt und sagt: „Es wird alles wieder.“ Der Richter läuft aus dem Gerichtssaal und alarmiert über das Telefon bei der Justizwache die Polizei: „Ich habe gleich vier Einsatzfahrzeuge bestellt, nicht mal meinen Namen gesagt.“
Binnen zwei Minuten seien die Beamten eingetroffen; mit gezogenen Maschinenpistolen sollen sie in den Gerichtssaal gestürmt sein. Lukas N. sagt: „Ich bin vor dem Saal auf- und abgelaufen, habe dann meine Frau angerufen.“ Bevor es zur polizeilichen Vernehmung geht, unterhält sich ein Seelsorger mit den Beteiligten.
Maximilan Kaiser, der Strafverteidiger, stellt dem Zeugen dann viele Fragen. Nicht zum Tatablauf, sondern zu dem damaligen Verfahren in Dachau. Er will im Mordprozess beweisen, dass sein Mandant damals nur freie Mitarbeiter beschäftigt hat und damit keine Sozialabgaben zahlen musste: „Ich will damit die Motivlage meines Mandanten klären.“
Diese Fragen muss ihm der Richter nach dem Gesetz nicht mehr beantworten. Letztendlich probiert es sein Mandant Rudolf U. selbst noch einmal. Der Angeklagte, dem in der U-Haft als Folge schwerer Diabetes beide Beine amputiert worden sind, ruft im Gerichtssaal von seinem Bett aus: „Wie kann einer bei mir fest angestellt gewesen sein, wenn er noch für andere Unternehmen gearbeitet hat?“ Der Richter: „Ist schon beantwortet.“
Das ist zuviel für Rudolf U. Im Hinblick auf eine Revision fordert er seinen Anwalt auf: „Das schreibst auf jeden Fall auf!“