Dachauer Richter: So erlebte er die Todesschüsse

München - Er blickte auf das Papier und las die Urteilsbegründung vor. „Wie weit ich gekommen bin, weiß ich nicht mehr“, sagt er. Denn dann fielen im Dachauer Amtsgericht die tödlichen Schüsse. Der 36-Jährige, der am Mittwoch die dramatischen Szenen schildert, war Richter in dem Prozess, der für einen jungen Staatsanwalt tödlich endete. Am 11. Januar dieses Jahres zog ein heute 55 Jahre alter Transportunternehmer kurz nach dem Urteil in seinem Prozess um Scheinselbstständigkeit eine Waffe, erschoss den Staatsanwalt und feuerte mehrfach in Richtung Richterbank. Dabei trug der 55-Jährige – das zeigen Beweisfotos am Mittwoch im Mordprozess vor dem Landgericht München – ein T-Shirt mit der Aufschrift „Pfundskerl“ und dem Konterfei von Che Guevara auf dem Rücken.
Unter der Richterbank kauernd habe er weitere Schüsse gehört, sagt der Richter von damals als Zeuge im Mordprozess. Wie er dorthin gekommen sei, das wisse er nicht mehr. „Nach den ersten ein, zwei Schüssen gab es eine kurze Pause und dann kamen nochmal welche.“ Hoch gewagt habe er sich erst wieder, als der Angeklagte überwältigt worden sei. Und auch da sei ihm die Dimension noch nicht klar gewesen. Bei dem Staatsanwalt, der regungslos am Boden lag, habe er keine Verletzungen gesehen. Seine Vermutung: vielleicht ein Schock. Eine tödliche Verletzung, die habe er sich gar nicht vorstellen können. „Ich hab den Staatsanwalt liegen sehen, hab ihn angesprochen und gesagt, es wird alles wieder gut.“
Dass nicht alles gut wird, dass es sich wirklich um eine echte Waffe handelte, das habe er erst spät realisiert. „Das mag naiv sein, aber ich habe nicht geglaubt, dass das eine scharfe Pistole ist“, erinnert er sich. „Vielleicht war das ein Schutzreflex.“ Als er die schweren Verletzungen des Staatsanwaltes bemerkte und langsam verstand, was da gerade geschehen war, sei ihm schwarz vor Augen geworden. Er rief die Polizei. „Ich habe nicht einmal meinen Namen gesagt. Nur: Sofort Polizei. Amtsgericht Dachau.“
Auch heute noch könne er die Bilder aus dem Gerichtssaal nicht vergessen, sagt der 36 Jahre alte Richter, der seinen Beruf nach wie vor ausübt und auch weiterhin den Vorsitz in Strafprozessen hat. „Die Bilder sind immer wieder da. Es ist eine Dauerschleife.“ Verschwinden würden sie aus seinem Kopf nie – genau so wie die Frage nach dem Warum. Der Angeklagte habe doch gewusst, was ihn im Dachauer Prozess erwarte, sagt der Richter. Und das Urteil – eine Bewährungsstrafe und 30 Tagessätze à 30 Euro – sei doch sehr mild gewesen.
Immer wieder aber sei der Angeklagte im Prozess um nicht bezahlte Sozialversicherungsbeiträge und Scheinselbstständigkeit aus der Haut gefahren, sei Zeugen und auch dem Staatsanwalt ins Wort gefallen. Einen kleinen Einblick wie das damals abgelaufen sein kann, bekommen Prozessbeobachter auch in München. Am Mittwoch versuchen der Angeklagte und sein Anwalt immer wieder, den Fall von damals wieder aufzurollen. Als der 36-Jährige sich – unterstützt vom Vorsitzenden Richter – weigert, detaillierteste Fragen zum damaligen Verfahren zu beantworten, weist der Angeklagte seinen Anwalt an: „Das schreibst jetzt aber auf.“ Den Münchner Richter macht das Auftreten von Anwalt und Angeklagtem unverhohlen wütend. Der Dachauer Richter sagt schlicht: „Er war ein schwieriger Angeklagter.“