Clemens Hagen: Der Münchner war neun Minuten im Jenseits
München - Neun Minuten können verdammt lang sein – wenn man klinisch tot ist, das Herz nicht schlägt, das Gehirn keinen Sauerstoff bekommt, man reanimiert werden muss. Dem Münchner Autoren Clemens Hagen (51) ist genau das passiert – in der Nacht am 28. November 2012 auf einem Flug nach München: innere Blutung in der Speiseröhre. 90 Prozent überleben das nicht. In einer Klinik in der Nähe von München wird er ins künstliche Koma versetzt, dabei gerät er in eine düstere Welt voller bizarrer Albträume.
Immer an seiner Seite kämpft seine Verlobte Kimberly Hoppe, die Leute-Kolumnistin der Abendzeitung. Aus dieser schweren Zeit haben die beiden ein Buch gemacht. Aus zwei Perspektiven beschreiben beide in „Neun Minuten Ewigkeit“ eine Reise in die Abgründe der menschlichen Seele und durch den oft irrwitzigen Klinik-Alltag. Heute druckt die AZ Auszüge davon. Der Nahtod Hier beschreibt Hagen Erinnerungen an seine Zeit zwischen Leben und Tod:
„Ich sehe die Zeit, Uhren, die zerschmelzen, wie auf Bildern des großen Salvador Dalí. Es kommen Schule, Pubertät, erster Kuss und erster Kummer, später Arbeit, Heirat, Scheidung, neue Liebe, Tod der Eltern. Jetzt, das weiß ich, werde ich sie gleich wiedertreffen. Nicht hier, an einem anderen Ort. Den sehe ich nicht, den fühle ich nur. Ich werde sie in den Arm nehmen, sie werden mir über den Kopf streichen und mich ganz fest drücken. Dann, so plötzlich wie die Bilderreise begann, endet sie wieder. Ich spüre Schmerz, stechenden Schmerz in der Brust.
Warum? Ich bin doch noch gar nicht am Ziel. Wieder dieser Schmerz. Meine Eltern, wo sind sie? Werden sie mir etwa schon wieder genommen, ein weiteres Mal? Große Traurigkeit steigt in mir empor. Da! Wieder sticht es in der Brust. Die Bilder sind zurück. Aber es sind nicht die Bilder meiner Eltern. Sie sind weg, unwiederbringlich womöglich, wie ich fürchte. Nicht einmal Lebewohl haben wir uns gesagt. Stattdessen tauchen andere Bilder vor mir auf. Situationen voller Selbstzweifel, Kümmernisse, von enttäuschten Liebe und Freundschaften, von schlaflosen Nächten voller Furcht.
Die Summe aller Ängste eines menschlichen Lebens. Meines Lebens. Plötzlich ist mir sehr kalt. Und ich frage mich, ob es Trost gibt? So etwas wie das Jüngste Gericht? Habe ich in den 50 Jahren auf diesem Planeten mehr richtig gemacht oder mehr falsch? Wohin wird die Waagschale sich neigen? Wer wird darüber befinden? Was geschieht nun mit mir? Gibt es Himmel? Gibt es Hölle? Gibt es Strafe? Gibt es Vergebung? Gibt es Gott? Wieder sticht es in der Brust. Noch stärker als bei den vorigen Malen. Ich schwimme. Ich schwimme in warmem, glasklarem, türkisfarbenem Wasser.
Ein Meer von sagenhafter Schönheit. Zerklüftete Felsen, bunte Fische, Korallen, sphärische Musik klingt mir im Ohr. Der wundervollste Platz auf dieser Erde. Ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich möchte nie wieder weg. Ich bewege mich schwerelos. Immer weiter tauche ich, ganz dicht unter der Oberfläche. Ich spüre die wärmende Sonne auf dem Rücken und kann mich nicht sattsehen an den immer neuen bezaubernden Unterwasserwelten. Das Paradies? Liegt es unter Wasser, gar nicht darüber? Aber was ist das? Plötzlich zieht mich eine Kraft hinab in die Tiefe. Das Wasser wird kälter, um mich herum wird es dunkler. Hier schwimmen keine Fische mehr. Immer schneller, immer tiefer tauche ich hinein ins Schwarze. Der Druck auf meiner Brust wird unerträglich. Es ist Nacht.“
Lesen Sie die ganze Geschichte am Montag in der Print-Ausgabe der Abendzeitung.
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