Claus Schreer: "Revolution mit 80 macht Spaß"

München - Er ist inzwischen ein betagter Mann – der immer weiter demonstriert: Claus Schreer im großen AZ-Interview. Mehr als 100 Demonstrationen hat der 80-Jährige organisiert, vor allem auch gegen die Münchner Sicherheitskonferenz.
AZ: Herr Schreer, wie lebt es sich als Revolutionär mit 80 Jahren?
CLAUS SCHREER: Ich kann nicht klagen. Ich bin noch ganz fit und ohne politisches Engagement ginge es mir eher schlechter. Auch wenn wir nicht in revolutionären Zeiten leben, gibt es doch jede Menge Gründe, sich für eine bessere, eine gerechte und solidarische Gesellschaft einzusetzen.
Was machen Sie gerade?
Wir organisieren wie jedes Jahr derzeit die Protestaktionen gegen die Sicherheitskonferenz Mitte Februar im Bayerischen Hof. Die Plakate müssen in Druck, die Flyer. Zum Glück sind wir eine Menge Leute, die das gemeinsam machen.
Sie sind im Dachauer Hinterland aufgewachsen, als Klosterschüler. Klingt nicht revolutionär, eher gutbürgerlich!
Ich war vier Jahre im Internat. 48 Schüler in einem Schlafsaal. Da war der ganze Tag bis ins letzte Detail festgelegt, vom Aufstehen um 5.30 Uhr bis zur Bettruhe um 20 Uhr. Da gab es kaum Raum für persönliche Freiheiten. Ich glaube, damals ist mein Drang zur Freiheit geweckt worden.
"Ziviler Ungehorsam ist wichtig"
War das der Grund, weshalb Sie in den 50er Jahren den Wehrdienst verweigert haben?
Ich wollte keinesfalls Soldat werden. Damals ging es darum, ob die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgerüstet wird. Ich habe dagegen gekämpft und ich tue es noch heute.
Sind Sie ein überzeugter Pazifist?
Ich bin und bleibe Pazifist. Jedes Land hat das Recht sich zu verteidigen. Widerstand gegen Besatzer, wie der Kampf der Partisanen gegen die faschistische Wehrmacht, beispielsweise in Italien oder Griechenland war natürlich gerechtfertigt.
Was sagen Sie als Pazifist dann zu den Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg?
Gewalt wie in Hamburg finde ich nicht in Ordnung. Das ist kontraproduktiv. Ich glaube, da waren gezielt Provokateure am Werk. So etwas schadet unserer Sache. Ziviler Ungehorsam aber, zum Beispiel Blockadeaktionen gegen Naziaufmärsche sind wichtig, genauso wie Streiks.
Sie waren 45 Jahre Mitglied in der DKP und sind dann ausgetreten. Warum?
Ich war mit Positionen nicht mehr einverstanden. Mich hat um Beispiel gestört, dass die DKP zur letzten Bundestagswahl angetreten ist. Ich war dafür, die Partei DIE LINKE im Bundestag zu stärken und sie nicht zu schwächen.
Sie kritisieren vehement die Politik der Bundesregierung und der Nato. Zur Kreml-Politik hört man dagegen wenig. Sind sie auf dem linken Auge blind?
Meine Kritik richtet sich primär gegen Zustände in diesem Land. Vor allem gegen die Aufrüstung und Kriegspolitik Deutschlands. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir das zunächst hier, bei uns tun.
Lieber Revolutionär als Revoluzzer
Und Putins Politik, beispielsweise in Syrien?
Wenn Russland in Syrien Zivilisten bombardiert, muss man das kritisieren. Doch alle Angriffskriege der letzten Jahre wurden von Nato-Staaten geführt, gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder Libyen. Und die türkische Armee ist mit deutschen Leopard-Panzern in Nordsyrien, in Afrin einmarschiert. Das ist glatter Bruch des Völkerrechts.
Man hat Sie mal "den letzten aufrechten Kommunisten in München“ genannt. Gefällt Ihnen das?
Eher nicht. Ich bin nicht der Einzige. Ich kenne ganz viele aufrechte Kommunisten.

Gefällt Ihnen Revoluzzer besser?
Revoluzzer finde ich doof. Ich verstehe mich als Revolutionär. Das ist etwas anderes. Ich will eine gerechte Gesellschaft, eine Gesellschaft, die allen nützt, die nicht nur einigen wenigen Reichen nützt und die Profite der Konzerne garantiert. Dazu gehören für mich beispielsweise auch Themen wie bezahlbare Wohnungen genauso wie der Klimaschutz.
Sind Sie ein besonders streitbarer Mensch?
Ich glaube schon. Ich diskutiere seit Jahrzehnten mit Menschen, die eine andere Meinung haben als ich. Die Linke ist ein pluralistisches Gebilde, da gibt es viele Leute mit vielen unterschiedlichen Standpunkten. Das ist auch gut so. Man kann voneinander lernen und nur gemeinsam können wir etwas verändern.
Schreer: AfD ist "Folge der jahrelangen Regierungs-Politik"
Wie viele Demos haben Sie organisiert, wie viele Flugblätter verfasst?
Meine Güte, das weiß ich nicht mehr. Das fing schon in den 60er Jahren an mit den Ostermärschen. Demos dürften es über 100 gewesen sein.
Wie oft sind Sie festgenommen worden?
Das war bestimmt mehr als sechs Mal. Das erste Mal bei der Blockade der Bildzeitung zu Ostern 1968. In Passau bin ich bei der Blockade gegen eine DVU-Veranstaltung alter Nazis in der Nibelungenhalle festgenommen worden. Mich hat man vor Gericht gestellt. Alt-Ob Georg Kronawitter, der die Aktion auch unterstützt hatte, nicht. Beim Weltwirtschaftsgipfel in München 1992 war ich im Polizei-Kessel und bin damals wie viele andere auch festgenommen und auf Präsidium gebracht worden. 2002, als während der Sicherheitskonferenz in München ein Demoverbot über die ganze Stadt verhängt wurde, passierte es wieder. Dabei bin ich nach einer Pressekonferenz mit einer Gruppe Leute nur rüber zum Marienplatz gegangen. Das galt schon als Verstoß gegen das Demoverbot. Ein paar Mal bin ich auch vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Aber es blieb immer bei Geldstrafen.
Manche halten Sie für einen Berufsdemonstranten. Ärgert Sie das?
Ja. Das würde mein politisches Engagement zu sehr eingrenzen. Ich arbeite als Publizist und habe auch mal ein Buch zur Mieten- und Bodenspekulation geschrieben, ich bin in der Friedensbewegung aktiv, ich kämpfe gegen die Abschiebung von Geflüchteten, gegen Rassismus und Faschismus.
Dann müsste Sie es besonders ärgern, dass die AfD inzwischen im Bundestag und in allen Landtagen sitzt!
Das ist ein Trauerspiel. Es ist aber auch eine Folge der jahrelangen Regierungs-Politik, die sich gegen die Interessen der Menschen richtet. Nationalistische und fremdenfeindliche Parolen versprechen einfache Lösungen. Das glauben viele Leute nur all zu gerne.
Was kann man dagegen tun?
Das ist schwierig. Je größer die Angst ist vor sozialem Abstieg, umso mehr laufen die Leute den Rechtspopulisten nach. Was fehlt, ist eine starke Linke, eine Linke, zu der die Menschen Vertrauen haben und die was bewirkt.
Revolution kennt kein Alter
Sie haben Ihr ganzes Leben für eine linke Gesellschaftsordnung gekämpft. Sind sie frustriert?
Ich messe meine politische Arbeit nicht nach dem großen, alles verändernden Erfolg. Wer etwas verändern will, muss sich einmischen und was tun. Die Faust in der Tasche ballen nützt nichts, und ein paar Likes auf Facebook sind nicht genug.
Macht Revolution mit 80 noch Spaß?
Mir schon.
Andere haben in Ihrem Alter ein Landhaus in der Toskana. Hätten Sie das auch gerne?
Nein, für so etwas habe ich mich nie erwärmen können. Ich mache jedes Jahr mit meiner Frau Urlaub auf Kreta. Ich gehe gerne in die Berge. Damit bin ich sehr zufrieden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel verabschiedet sich schrittweise aus der Politik, auch Horst Seehofer ist langsam auf dem Rückzug. Wann ist es denn bei Ihnen soweit?
Daran denke ich gar nicht. Wut und Empörung über die Missstände treiben mich immer wieder an. Daran wird sich wohl kaum was ändern.