"Citta 2000": Das Swinging-München der 70er Jahre

Als Schwabing noch wild war: Mit einem riesigen Besucherandrang wurde am 22. Januar 1969 das "Citta 2000" eingeweiht. Auch der AZ-Reporter war dabei. Später endete das Märchen traurig.
von  Karl Stankiewitz
Ein Restaurant im "Citta 2000" im Jahr 1974: Eine junge Frau sitzt zwischen anderen Gästen und unter auffälligen Lampen.
Ein Restaurant im "Citta 2000" im Jahr 1974: Eine junge Frau sitzt zwischen anderen Gästen und unter auffälligen Lampen. © Gert Kreutschmann

Als Schwabing noch wild war: Mit einem riesigen Besucherandrang wurde am 22. Januar 1969 das "Città 2000" eingeweiht. Auch der AZ-Reporter war dabei. Später endete das Märchen traurig.

München - Man nannte sie die ungekrönten Kings vom Swinging Munich der der 1970er Jahre: die "kaukasischen" Brüder Anusch und Temur Samy. Und als sie in Schwabing mit dem Vergnügungszentrum "Città 2000" die jüngste (und letzte) Errungenschaft ihres Gastro- und Gaudi-Imperiums planten, stellten sie es sich als Basar der modernen Konsumgesellschaft und Eldorado der Popkultur vor.

"Città 2000": Ein Vorgeschmack vom urbanen Leben der Zukunft

Unbeeindruckt von aufkommender Kritik an der Kommerzialisierung des gewesenen Künstlerquartiers richteten sich die ehemaligen Teppichhändler und Minicar-Erfinder – der Vater war Iraner, die Mutter Deutsche – mit eigenen Anfangskosten von zwei Millionen Mark in einem marmorweißen Atriumhaus an der Leopoldstraße 28 ein. Der Name "Città 2000" sollte einen Vorgeschmack vermitteln vom urbanen Leben in naher Zukunft, wie es nicht nur der strahlenden Olympiastadt bevorstand.

In einem raffiniert angelegten Labyrinth von Räumen, Durchgängen, Gassen und Plattformen auf verschiedenen Ebenen konnten die Kunden kaufen und konsumieren, was seinerzeit gerade letzter Schrei war: Hit-Platten und Hippie-Silberschmuck, die Klamotten von der Londoner King’s Road, Poster und ebenso bunte Perücken, Last-Minute-Reisen und blitzende Autos.

Eine Traumwelt zwischen gestern und morgen

In einem bewirtschafteten Kino, dessen Stühle aus der abgerissenen Metropolitan in New York stammten, liefen ganztägig Lustspiele, in "Dr. Müllers Sex-Boutique" gab es erotische Literatur und lustspendendes Spielzeug. Und überall konnte "geflippert" werden. Mehrere Boulevard-Cafés, Bars, Pubs, Picknick-Theken und Pâtisserien waren mit den 40 Boutiquen derart verschachtelt, dass der Besucher ständig geneigt war, zu gehen und zu stehen, zu schauen und zu kaufen.

Korinthische Kapitelle und Kandelaber, kardinalroter Samt und dunkle Täfelung, Spiegel und Glas, psychedelische Beleuchtung und Musikberieselung vermischten sich zu einer Orgie von Kitsch, zu einer Traumwelt zwischen gestern und morgen. Laufend sagte ein Ansager über Lautsprecher irgendein Programm oder eine Kaufchance an oder gab sonderbare Parolen durch.

Das "Città 2000" als Spielplatz auf kommerzieller Grundlage

Vor dem Eingang postierten die kaukasischen Könige eine dreieinhalb Meter hohe Hand aus Gips mit Goldüberzug – ein unverkennbares Symbol. Das war – der Tanztempel Blow-Up, der glitzernde Drugstore und ähnliche Samy-Gründungen inbegriffen – nicht mehr das alte Schwabing, sondern ein verrückter internationaler Spielplatz auf breiter kommerzieller Grundlage.


Überdimensionale Hände: ein "Città"-Wahrzeichen. Foto: Heinz Gebhardt

Dessen Schöpfer machten auch gar keinen Hehl daraus. Sie benannten die gepflasterten Bummelwege vor den Mini-Shops nach berühmten Straßen von Weltstädten, ließen auf dem Boulevard Leopold den "alten Schwabinger Zopf" verbrennen, und wählten als Barhocker ebenfalls Goldhände.

Natürlich hatte die Ladenstadt auch einen Bankschalter. Weitere Dienstleistungen wurden in einem "Service-Pool" in der vierten Etage abgewickelt. Da gab es eine Rechtsberatung ebenso wie eine Denkfabrik, in der Kreative, angeregt durch die Big Brothers, an weiteren tollen Projekten tüftelten. Auch der später so einflussreiche Unternehmensberater Roland Berger nistete sich dort ein.

"Wir brechen aus, wir mobilisieren die Jugend"

Während der 29 Jahre alte Temur Samy als großer Träumer im Münchner Monopoly mitspielte, sorgte der 34-jährige Anusch Samy, der sein Maschinenbaustudium an der TH, der heutigen Technischen Universität, abgebrochen hatte, knallhart fürs Geschäft. Sein nächstes Vorhaben war eine "Kollektivwerbung der Boutiquenbesitzer im Rang von Großunternehmen". Dies klang wie eine offene Kampfansage an die Kaufhaus- und Supermarkt-Goliaths, die sich gerade zu zentralisieren begannen.

Von seinen Ideen war Klein-David Anusch so überzeugt, dass er für 15 Millionen Mark gleich drei Etagen der "Città" vom Hausbesitzer, einem Immobilienunternehmen, auf 25 Jahre mietete. Im Mai bat der kaukasische Kulturkapitalist Journalisten zur Audienz, um den gemeinsamen Marsch mit den seit 1968 anhaltend rebellierenden Studenten zu verkünden: "Wir machen nichts anderes als die APO – wir brechen aus dem erstarrten System aus und mobilisieren die Jugend."

Weitere Filialen waren geplant

In fünf weiteren deutschen Städten sowie in Brüssel und Amsterdam wollte er nun "den Laden umkrempeln". Eine Kette von "Vergnügungsmärkten neuen Stils" befinde sich bereits im Aufbau. Alle sollten sie "Città 2000" heißen, aber jeweils dreimal so groß und noch perfekter werden. In jede Filiale wollte er zwei Millionen Mark stecken. Sechs Millionen waren bereits investiert.

Auch in ihrer Wahlheimat München selbst setzten die Brüder auf Expansion, ja auf Revolution. Nachdem sie mit ihrem siebten Lokal namens "Bouillabaisse" in die City vorgestoßen waren und in Bad Wiessee einen ersten "VIP-Club" eröffnet hatten, galt es jetzt, "Schwabing zu sozialisieren". Das begann nochmal auf dem Boulevard Leopold, mit der volkstümlichen, 400 Plätze großen "Brez’n", die ebenso wie der "Drugstore" (der jetzt bloß anders heißt) noch existieren.

Engen Mitarbeiter wurde von dem Höhenflug schwindelig

Im November verhieß uns der große Bruder noch: "Ich werde zunächst in dieser Stadt 20 Restaurants verschiedenen Stils und zur Abrundung ein Luxushotel eröffnen." Auf der Isar wollte er ein Restaurant-Schiff verankern, das Meerestiere wie Hummer und Austern servieren sollte; ein abgewracktes Showboat hatte er schon in Paris gekauft. Im Englischen Garten wollte er auf eigene Kosten den Chinesischen Turm abreißen, um ihn originalgetreu als größtes China-Restaurant Europas wiederaufzubauen. In einem japanischen Bad sollten Geishas massieren und Tee servieren.

Das Reich der gewöhnlichen Gastronomie verlassend, griff Anusch nach den Sternen. Er schloss Verträge mit 15 Fachärzten für ein zehn Millionen Mark teures Diagnosezentrum. In diesem "Tüv für Menschen" sollte jeder zu einem Pauschalpreis auf Herz und Niere gecheckt werden können, Computerhilfe eingeplant. Und der Clou: Die hauseigene "Ideen-Abteilung" hatte einen revolutionären Flughafen-Entwurf fertig.

Einigen engen Mitarbeitern jedoch wurde bei diesen Höhenflügen schwindlig. So erklärte PR-Berater Max Zeidler, der den steilen Aufstieg befördert hatte, seinen Ausstieg. Der Umgang mit Behörden, vor allem ein Kleinkrieg gegen das Ladenschlussgesetz, zermürbte die Kreativen. Es schien auch Turbulenzen zu geben bei den Finanzen und der Refinanzierung; jedenfalls verzögerte sich die angekündigte Ausgabe von Volksaktien.

In den 70er Jahren folgt der Absturz der beiden Brüder

Und dann der Absturz: Am 6. März des Jahres 1970 geschah es, dass Anusch Samy bei einem Privatflug in St. Moritz tödlich verunglückte. Auch Temur, der Träumer, trudelte. Stand er doch vor einem Berg von Schulden; allzu viele Kreditgeber und Kleinanleger verlangten ihr Geld zurück. Temur verkaufte alles, was noch greifbar war. Das "Città 2000" selbst blieb noch bis Anfang der 80er bestehen.

Temur blieben nur der Offenbarungseid und der Rückzug in eine Kommune nahe der Tivolibrücke, wo er und letzte Anhänger weiße Gewänder anlegten, den Weltfrieden predigten, selbst gebraute Drinks und Drogen genossen. Die Mutter überwies monatlich 300 Mark an den verlorenen Sohn.

Der AZ-Reporter Gerhard Merk spürte Temur Samy 1997 in Südspanien auf. Er war allein in Gemeinschaft mit 50 Katzen und einer dürren Mähne. Gekleidet war er wie ein alter Revoluzzer. Wahrlich, ein Ritter von der traurigen Gestalt. Kleinlaut beklagte der so tief gestürzte Vizekönig von Schwabing im spanischen Exil sein Leid: "Ich habe alles verloren, Geschäftsglück, die große Liebe und meine Ideale."

Im Jahr 2004 ist auch Temur Samy gestorben. Und das Haus, in dem den Menschen eine schöne neue Konsumwelt vorgegaukelt wurde, gehört längst einem global operierenden Versicherungskonzern.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.