Christine Strobls Kindheit in den 60ern: Arbeiterviertel am Glockenbach

München - So viele Erinnerungen, an jeder Ecke. Eine Stunde spaziert man schon mit Christine Strobl durch das Glockenbachviertel und ihre eigene Kindheit. Alles hat sie mit Fassung getragen. Dass die Fabrikschlote nicht mehr rauchen, keine Kinder auf den Straßen zu sehen sind, die alten Münchner verschwunden. Sie hat es sehr geliebt, das alte Glockenbach. Aber mei, sagt Strobl, Städte verändern sich nun mal.
Kleines Obstgeschäft hat geschlossen: "Das gibt es doch nicht!"
Doch jetzt, nach einer Stunde, reicht es auch Christine Strobl. Sie wollte gerade ein kleines Obstgeschäft zeigen, ja, wenigstens das habe all die Jahrzehnte überlebt. Und nun steht Christine Strobl fassungslos vor dem Haus. "Sag mal!", ruft sie, "das gibt es doch nicht!" Und liest fassungslos vom Schaufenster ab. "Massagen im Wasserbett." Ja, das braucht's hier auch noch, schnauft Strobl.
An der Thalkirchner Straße holte Christine Strobl als Kind Zigaretten
Sie kann es nicht fassen. So langsam ist wirklich gar nichts mehr über von ihrem alten Glockenbachviertel. In dem sie jede Ecke kannte. Sich die Nachbarn auf der Straße grüßten. An der Thalkirchner Straße gab es in ihrer Kindheit einen Laden für Raucherbedarf, natürlich bekam die kleine Christine da Zigaretten für ihren Vater.
Der war Maler und Tapezierer. Ein ganz normaler, handfester, bodenständiger Beruf. Der damals gut passte zu den Nachbarn in einem ganz normalen, handfesten, bodenständigen Viertel. Am Roßmarkt 15, wo heute die Meisterschule für Mode ist, ging die kleine Christine in die Grundschule.
Strobl ging am Am Roßmarkt 15 in die Grundschule
1967 wurde Christine eingeschult, 41 Kinder in der Klasse. Es gab noch sehr viele Kinder in der Innenstadt - was sich bald grundsätzlich ändern sollte. Schon 1975 wurde die Schule aufgegeben. Nachbarskinder waren etwa nach Neuperlach gezogen, wo die ersten Blöcke mit Sozialwohnungen entstanden - beneidenswert ausgestattet mit Lift, Bad und eigenem Kinderzimmer.
Familie wohnte auf 45 Quadratmetern – Toilette im Treppenhaus
Sowas hatten viele Familien im Glockenbachviertel nicht. Auch nicht die von Christine Strobl. 45 Quadratmeter bewohnte sie mit ihren Eltern in einem Hinterhof, die Toilette draußen im Treppenhaus. 1972 wurde ein neues Haus gegenüber fertig, die Familie zieht in den vierten Stock, die Mutter übernimmt die Hausmeisterei.
Die Schule war nicht nur sehr voll, es gab auch oft Lehrermangel. Strobl war eine gute Schülerin. Und musste als Viertklässlerin die Erstklässler beaufsichtigen, wenn mal wieder kein Lehrer da war. Die Kinder hätten das voll akzeptiert, sagt Strobl. "Kann man sich heute nicht mehr vorstellen."

Wenn Christine Strobl an der Augsburgerstraße ("hier gab es noch nie Grün!") aus dieser Zeit erzählt, kann man abtauchen in eine andere Welt. Als die Kinder noch die weitgehend autofreien Straßen bevölkerten, mit dem Radl ab Samstagmittag auf dem Tankstellengelände rum-sausten, die hatte ja schon zu. Als man Verstecken auf dem Südfriedhof spielte - und in den Kriegsruinen und auf den brachliegenden Grundstücken. Und ganz selbstverständlich mit seiner Flasche zum Milchladl an der Thalkirchner Straße ging, um sich frische Milch zu holen. Es gab auch noch Fabriken in der Gegend.
Glockenbach war schon früher schwul
Aber schwul war das Viertel damals auch schon, Strobl erinnert sich an die Szenekneipen, deren Besucher, die man in den Straßen sah. An Konflikte aber kann sie sich gar nicht erinnern. "Das hat einfach auch dazugehört. Die Leute, die hier gewohnt hatten, hatten andere Sorgen, als sich über sowas aufzuregen."
Die Mutter ging zu Tanz und Varieté in das Kolosseum an der Kollosseumstraße. Strobl erinnert sich auch daran, wie sie ihren Vater beim Wiesn-Aufbau besuchte, er malerte immer im Schützenzelt. Und natürlich ging sie auch mit ihrer Mutter rüber auf die Wiesn. Aber, das ist ihr wichtig zu sagen, es war eben etwas Besonderes, dass man sich etwa ein Fahrgeschäft leistete. Natürlich wären sie damals nie in Tracht gegangen, betont Strobl.
Überhaupt, die Wiesn sei viel gemütlicher gewesen. Man konnte raus aus dem Zelt und einfach wieder rein, sich ganz normal unterhalten.
"Einfach nur noch Ballermann"
Heute ist das nicht mehr so. Und die lauten Partys, sie stören Strobl nicht nur auf der Theresienwiese im Herbst - sondern immer hier, an der Thalkirchner Straße. "Das ist ab halb zehn einfach nur noch Ballermann", sagt sie. "Fürchterlich!" Hier vorne, das sei ein Heim für Obdachlose und Flüchtlinge, alles Ein-Zimmer-Apartements zur Straße raus. "An die denkt wieder keiner", schimpft Strobl, die Bewohner könnten der Dauer-Party einfach nicht entkommen.
Darum ist das Glockenbachviertel immer unattraktiver geworden
Und so ist ihr Glockenbachviertel immer unattraktiver geworden für die alten Münchner. Sehr teuer. Und: sehr laut und schnelllebig. Strobl selbst wohnt schon lange im Olympischen Dorf. Ihre Mutter hat noch lange an der Augsburgerstraße gelebt, erzählt sie, am Schluss habe es ihr aber auch nicht mehr gefallen. Alleine in der kleinen Augsburgerstraße habe es früher zwei Lebensmittelläden gegeben.
Heute kann man sich in der Gegend leichter im Wasserbett massieren lassen, als eine Wurstsemmel und schwarzen Kaffee zu kaufen. Es ist noch das Glockenbachviertel. Aber nicht mehr das Glockenbachviertel von Christine Strobl.
Haben Sie auch noch Fotos aus Ihrer Kindheit in der Stadt in den 60ern? Schicken Sie sie uns gerne mit ein paar Erinnerungen an diese Zeit. Die Bilder sollten mindestens eine Auflösung von 1 MB haben. lokales@az-muenchen.de, Betreff: Kindheit in den 60ern oder an AZ, Lokalredaktion, Garmischer Straße 35, 81373 München