Christian Ude im Interview: Der Freistaat muss sofort 8.000 Wohnungen bauen
München - Der SPD-Mann (70) war von 1993 bis 2014 Oberbürgermeister der Stadt München - sein Nachfolger wurde Dieter Reiter. Heute arbeitet Ude als Autor, Kolumnist, Redner und Kabarettist.
AZ: Herr Ude, 15, 18, sogar bis zu 25 Euro pro Quadratmeter rufen private Vermieter für Wohnungen auf. Ist das noch Ihr München?
CHRISTIAN UDE: Leider ja, denn das Thema ist ja nicht neu. Es ist genau 50 Jahre her, dass ich als Zeitungsreporter aus dem Rathaus berichtete: Münchens Mieten sind die höchsten der Bundesrepublik. Als Mieteranwalt habe ich dann zwölf Jahre lang erlebt, dass Münchens Immobilienmarkt nicht nur der teuerste, sondern auch der brutalste ist: Mietervertreibung und Luxussanierung waren zentrale Begriffe schon der 80er Jahre. Die Missstände erreichen allerdings immer dramatischere Höhen, sodass immer weniger Durchschnittsverdiener mithalten können.
Ist der Trend noch zu stoppen?
Niemand wird den Trend auf dem Markt umdrehen können, solange München so attraktiv ist mit seinem Job-, Bildungs-, Kultur- und Gesundheitsangebot. Aber die Politik kann den Trend bremsen. Und sie kann zusätzlichen Wohnraum schaffen, der den Bedürfnissen dient und nicht nur den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgt.
8.272 neue Wohnungen sind letztes Jahr entstanden. Und bei den Baugenehmigungen für Neubauten hat das Planungsreferat einen Rekord geschafft. Reichen diese Anstrengungen der Stadt?
Obwohl sie gigantisch sind, reichen sie nicht für den gegenwärtig explodierenden Bedarf. München realisiert seit Jahrzehnten das größte kommunale Wohnbauprogramm des Landes und hat die Zahlen jetzt nochmals gesteigert. Allerdings wird immer noch - wie schon in meiner Amtszeit - gegen die Höhe und die Dichte neuer Wohngebäude polemisiert, Motto: "Die Stadt müsste viel mehr bauen, aber um Himmels willen nicht bei uns!"
Vielen Münchnern ist die Vorstellung eben unbehaglich, dass es immer noch enger und voller in der Stadt wird.
Ich kann sie verstehen, aber es gibt nun einmal keine Stopp-Taste, um Wachstum zu bremsen. Und wenn nicht weiter gebaut wird, werden die sozialen Probleme noch schärfer.
Was also müsste OB Dieter Reiter aus Ihrer Sicht tun?
Genau das, was er tut: Alle Hebel bewegen, um den Mieterschutz zu verschärfen und den Wohnungsbau anzukurbeln. Und zwar besonders für untere und mittlere Einkommensgruppen. Mit den Instrumenten Erhaltungssatzung und Vorkaufsrecht hat sich die CSU ja erst nach einem Vierteljahrhundert versöhnt. Dafür war sie blitzschnell beim Verkauf von über 8000 preiswerten staatlichen Wohnungen an eine private Spekulationsfirma.
Sie meinen die Wohnungen der GBW, die Markus Söder als damaliger Finanzminister an das Patrizia-Konsortium verscherbelt hat?
Sicher. Nun lautet die spannendste Frage der städtischen Wohnungspolitik: Gelingt es, noch in dieser Amtsperiode, so viele dauerhaft preiswerte Wohnungen zu schaffen, wie durch Markus Söder allein mit diesem einen Federstrich der Spekulation überlassen wurden?
Das dürfte schwer werden, wenn die Stadt selbst - wie im Neubaugebiet Freiham - Grundstücke so teuer anbietet, dass es sich keine Genossenschaft leisten kann, dort günstige Wohnungen zu bauen.
Der erste Anlauf ist missglückt, aber jetzt versucht die Stadt im zweiten Anlauf, möglichst viele Genossenschaften ins Boot zu bekommen. Das ist gut und richtig so.
1994 haben Sie als OB die "Sozialgerechte Bodennutzung", die SoBoN, eingeführt, damit Grundstückseigentümer, die neues Baurecht erhalten - und damit eine enorme Wertsteigerung für ihr Grundstück - , sich an den Kosten von Sozialwohnungen, Kitas, Straßen und Grünflächen beteiligen müssen. Was hat das gebracht?
Bisher weit über 800 Millionen Euro. Weil die Grundbesitzer wissen, dass sie ohne solche vertraglichen Pflichten kein neues Baurecht bekommen. Da wurde erst Zeter und Mordio geschrien und ein Rückgriff in die sozialistische Mottenkiste beklagt, aber die vernünftigen Bauträger haben eingesehen: lieber ein Bebauungsplan mit gerechter Lastenverteilung als gar kein Plan, also auch gar kein Geschäft.
Der Haken an der SoBoN ist aber, dass nur die Hälfte der Neubauten ein neues Baurecht braucht. Wo schon altes Baurecht vorhanden ist wie bei Baulücken innerhalb der Stadt oder wenn kleinere Gebäude abgerissen werden, greift das Instrument nicht.
Richtig, dann kann der Grundstückseigentümer den explodierenden Wertgewinn einstecken, ohne vorher vertragliche Pflichten bei der Stadt einzugehen. Deshalb hat sich ja die Münchner Initiative für ein soziales Bodenrecht gebildet. Da mache ich von Anfang an mit, genau wie Alt-OB Hans Jochen Vogel mit seinen 93 Jahren oder die ehemalige Stadtbaurätin Christiane Thalgott, die schon die SoBoN angeregt hatte.
"Enteignungen müssen möglich sein als Ultima Ratio"
Sie wollen mit der Initiative erreichen, dass Boden als Allgemeingut und nicht als Spekulationsobjekt betrachtet wird. Und dass Bodenpreise eingefroren werden können. Wie kann das gelingen?
Das geht nur durch den Bundesgesetzgeber. Die SPD greift das Thema auf, die Linke und die Grünen auch. Nur die Union bewegt sich noch nicht. Ich hoffe, dass wir da schnellstmöglich weiterkommen.
Was fordern Sie vom Freistaat und von CSU-Ministerpräsident Markus Söder?
Zunächst: Er muss den Sündenfall des Verkaufs der GBW-Wohnungen schleunigst wieder gutmachen und 8.000 preisgünstige Wohnungen für München und 33.000 für Bayern insgesamt bauen.
Und weiter?
Der Freistaat muss alle Instrumente, die der Münchner Stadtrat seit Georg Kronawitter fordert, endlich zur Verfügung stellen und auf Bundesebene daran mitwirken. Am wichtigsten wären: eine wirksame Mietbremse auch beim Abschluss eines neuen Mietvertrags. Eine viel deutlichere und dauerhafte Begrenzung der Modernisierungsumlage. Und eine Begrenzung der zulässigen Gesamtmiete, wenn mehrere Mieterhöhungsverfahren zusammenwirken. Bei der Reform des Bodenrechts sollte der Freistaat an die bayerischen Städte denken und nicht nur an die betroffenen Eigentümer - auch wenn sie ihm noch so nahe stehen.
Muss die SPD sich da nicht an die eigene Nase fassen? Es war Ihr Nachfolger, OB Dieter Reiter, der kürzlich die "Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme" (SEM) für den Münchner Norden gekippt hat und damit die Möglichkeit, dort die Bodenpreise einzufrieren. Wie beurteilen Sie das?
Die SEM gibt der Stadt eine starke Waffe, um Spekulationsgewinne zu verhindern. Ich habe 2012 im Münchner Nordosten davon Gebrauch gemacht. Natürlich ist eine Konsenslösung besser als ein langjähriger Prozess im Streitfall, aber man sollte seine einzige Waffe als Kommune nicht vorzeitig aus der Hand legen. Sonst ist man auf Einsicht und Bescheidenheit der Grundbesitzer angewiesen.
Das heißt: Enteignungen müssen als letztes Mittel möglich sein?
Als Ultima Ratio: ja. Wie beim Autobahnbau. Wohnungen sind doch genauso wichtig!
Vielfach wird kritisiert, dass in den Jahren unter OB Christian Ude viel zu wenig vorausschauend geplant und gebaut wurde. Haben Sie sich da Versäumnisse vorzuwerfen?
In meiner Amtszeit wurden 125 000 neue Wohnungen gebaut, und die Zahl der preiswerten städtischen Wohnungen wurde um über 50 Prozent gesteigert. Wenn die Nachfrage aber so sprunghaft steigt wie gegenwärtig, reicht das Angebot nicht, das ist ganz klar. An der Attraktivität Münchens bin ich nicht allein schuld und an Söders Wohnungsverkäufen gar nicht.
Müssen die Landkreise in der Region sich noch mehr engagieren, um günstige Wohnungen zu bauen?
Einige Kommunen des Umlands tun dies seit Jahrzehnten vorbildlich, bei anderen ist noch Luft nach oben.
Sehen Sie noch Hoffnung, dass München auf lange Sicht eine Stadt bleiben kann, in der nicht nur Reiche wohnen?
Das kann nur dann funktionieren, wenn neue Sozialwohnungen dauerhaft preisgünstig bleiben - und nicht wie bisher nur für die "Jahre der Sozialbindung". Das ist ein Fehler seit der Regierung von Konrad Adenauer. Auch hier brauchen wir ein neues Bundesgesetz, das die Sozialbindung nicht befristet, sondern auch künftigen Generationen gewährt. Da könnte der Gesetzgeber tatsächlich von Wien lernen - aber nur er, nicht das unzuständige Rathaus.
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