Christian Ude erinnert an 60 Jahre mit seinem Vorbild Hans-Jochen Vogel

München - An den Tag, an dem Hans-Jochen Vogel in das Leben meiner Klasse trat – wenn auch nur auf den Litfaß-Säulen der Stadt – erinnere ich mich noch ganz genau: Es war 1960, und plötzlich war ein Klassenkamerad in der ganzen Stadt auf Plakaten zu sehen mit der Parole: "Ja zu Dr. Vogel". Er erzählte uns, der erstaunlich junge Mann mit schwarzer Hornbrille sei wirklich sehr sympathisch, und unsere Eltern sollten ihn ruhig zum Nachfolger von Thomas Wimmer wählen.
Hans-Jochen Vogel: Urbanität und Modernität
Als Journalistensohn, der den Vater oft begleiten durfte, konnte ich den Jungstar dann auch im wirklichen Leben kennenlernen: Er wollte meistens drei Punkte unterstreichen oder drei Gefühlen Ausdruck verleihen, schien alles zu wissen und stand für Urbanität und Modernität, was man damals nur von wenigen Honoratioren im Rathaus behaupten konnte.

Später lernten wir im Sozialkundeunterricht, dass das Olympische Dorf und die U-Bahn an der Münchner Freiheit und der Verkehrsverbund und die Fußgängerzone nur deshalb so blitzschnell entstehen, weil der Doktor Vogel die Spiele nach München geholt hat, was auch Gelder des Freistaats und des Bundes locker gemacht habe. Offensichtlich ein Alleswisser, der auch alles kann.
Christi Himmelfahrt 1968: Ude und Vogel im Generationenkonflikt
Als ich 1966 dann in die SPD eintrat, rumpelten meine Generation und seine Person auch heftig zusammen. So viel Autorität war für aufmüpfige junge Leute einfach zu viel. "Erinnerst Du Dich noch an unser Gespräch an Jesus Christus Himmelfahrt 1968?", fragte er mich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder. Eine rein rhetorische Frage, denn natürlich erinnerte ich mich.

Er hatte mich privat in seine Wohnung eingeladen, um unter vier Augen auszuloten, ob nicht doch eine friedliche Lösung zwischen den aufeinanderprallenden Generationen und Milieus zu erzielen sei. Eine Befriedung haben wir nicht zustande gebracht, dafür waren die Konflikte zwischen den rebellischen Studenten und dem jahrgangsbesten Juristen zu groß, aber immerhin viele Formen der Zusammenarbeit – selbst in der Zeit, in der er dem akademischen Parteinachwuchs entgegenschleuderte: "In dem System, das ihr anstrebt, möchte ich nicht leben!"
Wegbereiter moderner Stadtforschung und Stadtentwicklungspolitik
Ende der 60er Jahre begegnete ich ihm sehr häufig als Reporter im Rathaus: Er kämpfte – sogar auf einer Konferenz der Jungsozialisten! – "für ein soziales Bodenrecht" und mit den Mehrkosten des Stachus-Bauwerks, die heute nicht einmal für eine einspaltige Meldung reichen würden, damals aber die Stadt erregten. Das Bodenrecht blieb sein großes Thema, bis in die letzten Monate seines Jahrhundert-Lebens.
Er wollte und konnte nicht einsehen, dass Grundstückseigentümer den Mehrwert neugeschaffenen Baurechts allein einkassieren dürfen, obwohl doch alle Kosten von der Gemeinschaft zu tragen sind, wenn aus Ackerboden Baugrund entsteht – von der Verkehrserschließung bis zum Kita- und Schulbau, ja der gesamten Infrastruktur. Das verstand in München jeder, bis in die gegnerischen Reihen hinein, aber im Bundestag interessierte es zu wenige, und bei konservativen und liberalen Abgeordneten stieß er auf schroffe Ablehnung. Das hat ihn gewurmt. Bis in die letzten Wochen.

Bei Heimspielen aber konnte er Triumphe feiern, etwa in München, wo er in einem ersten Wahlgang mit über 78 Prozent wiedergewählt wurde – ein wahrhaft einmaliges Ergebnis. Und als Präsident des Deutschen Städtetags (nur zwei Jahre lang) wurde er schnell zum Sprachrohr kommunaler Finanznot ("Rettet Deutschlands Städte jetzt!") und zum Wegbereiter moderner Stadtforschung und Stadtentwicklungspolitik. Als Spitzenkandidat der bayerischen SPD erlebte er zwar keine Münchner Resultate, aber doch heute unglaubliche 30 Prozent, was er gelegentlich mit aktuellen Umfragen verglich und mit den Worten "Sein tut’s was" kommentierte.
Wichtig für Vogel: Die Erinnerungskultur und seine Religiosität
Dass es in Wahrheit nicht nur einen Vogel, sondern derer zwei gab, haben die beiden begünstigten Parteien nicht gerne an die große Glocke gehängt, um den eigenen nicht durch den anderen zu relativieren. Dabei haben die beiden Brüder, der Hans-Jochen von der SPD und der Bernhard von der CDU Unglaubliches geleistet: Sie haben nicht nur in der alten Bundesrepublik höchste Ämter inne, sondern auch in den neuen Bundesländern: Bernhard, lange Zeit Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, wurde auch Regierungschef in Thüringen, und Hans-Jochen Vogel, der Oberbürgermeister der heimlichen Hauptstadt, wurde auch Regierender Bürgermeister von Berlin. Zwei Integrationsfiguren für Ost und West, aus einer Familie.

Man kann Hans-Jochen Vogel aber nicht würdigen, ohne auf zwei Aspekte einzugehen, die eine außerordentliche Rolle in seinem Leben gespielt haben: Die Erinnerungskultur, die ihn jahrzehntelang beschäftigte, zu Aktivitäten antrieb und nie ruhen ließ, damit sich das Unrecht der NS-Gewaltherrschaft niemals wiederholt, und seine Religiosität, die viele bei einem Spitzenpolitiker nicht vermuteten. Vor einigen Jahren lud er mit mir gemeinsam Kardinal Reinhard Marx ins Ehrenbürger-Zimmer im Alten Rathausturm ein, um Einladungsschulden abzutragen. Die beiden debattierten immer heftiger über Aussagen der neuesten Katechismus-Ausgabe, bis Hans-Jochen kurz austreten musste. "Sagen Sie", fragte mich der Kardinal ganz verunsichert, "ist er mit Ihnen auch so streng?"
Vorbild, eine Orientierungshilfe und ein Fels in der Brandung
Dass man auch im Ruhestand noch Maßstäbe setzen kann, höchst aktuelle und bedeutsame Maßstäbe, bewies er ohne jede Ausnahme in den letzten Jahrzehnten: Er arbeitete mit seinem durch und durch preußischen Pflichtbewusstsein an seinen Büchern und neuen politischen Initiativen und an der Pflege unglaublich vieler politischer Freundschaften, aber er diente sich niemandem als "Türöffner" für Geschäfte aller Art an, versilberte weder seine Erfahrungen noch seine Beziehungen aus jahrzehntelanger politischer Tätigkeit. Da könnte sich doch mancher seiner Nachfolger eine Scheibe abschneiden.
Hans-Jochen, ich danke Dir wie alle Sozialdemokraten, dass Du uns so unglaublich lange ein Vorbild, eine Orientierungshilfe und ein Fels in der Brandung warst. Und wem auch immer Du im Himmel begegnen wirst: Sei nicht zu streng mit ihnen!
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