Christian Ude: Die sollen linke Politik machen – nicht nur linke Sprüche!
München - Christian Ude im AZ-Interview: Der 71-Jährige war von 1993 bis 2014 Oberbürgermeister von München.
AZ: Herr Ude, Landwirtschaft in München: Braucht‘s des noch?
CHRISTIAN UDE: Dort, wo es ökologisch sinnvoll ist, sind landwirtschaftliche Grüngürtel gut und förderungswürdig. Es kann auch eine Chance sein für die Großstadt-Bevölkerung, noch Natur zu erleben. Aber das kann doch nicht die einzige zentrale Frage sein in einer wachsenden Stadt.
Was ist stattdessen die zentrale Frage?
Wo die Stadt überhaupt noch wachsen kann? Und da wird man zu der Antwort kommen, dass man nicht alle landwirtschaftlichen Flächen für unberührbar erklären kann.
Im Nordosten hat sich der Stadtrat für die SEM entschieden, wenn auch mit gewissen Abstrichen. Jetzt rüttelt die CSU doch wieder an der SEM. Hätte man sich die aufgeregte Debatte besser gespart und das Ding schnell durchgezogen?
Planungsprozesse brauchen ihre Zeit. Aber die Stadt hätte sich stärker verteidigen müssen, als die Gegner plötzlich Propaganda gegen die SEM machten. Ich habe schon vor acht Jahren angekündigt, dass die Bodenpreise eingefroren werden. Die Stadt hatte also Zeit genug, ihre Planungen zu erläutern.
Wohnungsbau: Ude-Lob für Dieter Reiter
Aber Sie haben den Dialog in Ihrer Amtszeit doch auch nicht eingeleitet. Bauern kritisieren, mit ihnen sei nie gesprochen worden.
Der Beschluss selbst muss natürlich überraschend kommen. Sonst findet die Preisspekulation ja vorher statt. Das ist wie bei der Mietpreisbremse. Wenn man da erst zwei Jahre diskutiert, hat auch der letzte Hausbesitzer noch die alten Gesetze ausgeschöpft. Aber wenn die Pläne konkret werden, dann muss man in den gesellschaftlichen Diskurs gehen. Ich habe als Oberbürgermeister in jeder Rede zum Wohnungsbau selbstverständlich die Sozialgerechte Bodennutzung Sobon und die Stadtentwicklungsmaßnahme SEM erläutert und begründet.
Was Ihr Nachfolger Dieter Reiter so nicht macht?
Das Thema Wohnungsbau hat er vorbildlich in den Mittelpunkt gerückt und weiter vorangetrieben. Das Thema SEM aber hat er verwirrend behandelt. Erst hat er die SEM für den Münchner Norden angekündigt – und dann nach Protesten wieder fallengelassen.
Zum Nordosten, der aktuellen Diskussion um Daglfing: Die SEM wird untersucht, aber zuletzt war nicht mehr von 30 000 neuen Bewohnern die Rede, sondern teils wieder nur von 10 000. Außerdem betont man im Rathaus, auf jeden Fall Enteignungen auszuschließen. Ist die Politik wieder eingeknickt?
Ich habe von Anfang an empfohlen und tue das noch heute, die Enteignung als Ultima Ratio zu verstehen, also einen Fall, den man nicht ausschließt, aber natürlich mit allen Anstrengungen vermeiden will. Und das schon deshalb, weil er eine neue Prozessrunde und damit eine zeitliche Verzögerung einleiten kann.
Das Drohmittel Enteignung aber braucht man?
Genau. Diese Möglichkeit wurde vom Bundestag bereitgestellt, um Wohnungsbauprojekte zu beschleunigen und sozialer zu gestalten. Wenn die Stadt sagt: Davon machen wir auf keinen Fall Gebrauch, dann heißt das doch, dass sie die einzige Waffe, die sie hat, beiseite legt. Jeder Bodeneigentümer kann dann ultimativ auftreten mit irrwitzigen Forderungen. Und wenn sein Grundstück unverzichtbar ist, hat er den Erpresserhebel in der Hand.
Die CSU stellt sich nun überraschend doch gegen die SEM. Was bedeutet das?
Die CSU will die SEM zu Grabe tragen. Jetzt sieht man wenigstens klar, welche Partei für mehr Wohnungsbau steht – und welche nicht. Es geht offenbar ein tiefer Riss durch die Große Koalition.
Warum tut sich Ihre SPD so schwer mit dem Thema?
Im Nordosten ist ihre Haltung klar und eindeutig positiv, allerdings ist sie im Norden ins Stolpern gekommen. Dort gab es keine Gegenwehr, als die Proteste in ihrer Heftigkeit überraschend kamen. Selbst auf der Bürgerversammlung gab es keinen Widerspruch durch die Stadtpolitik. Die Folgen kommen zwar nicht sofort, sind aber dann nicht abzusehen.
Ude: Die SPD muss auch mal Stehvermögen zeigen
Vor Ort gibt es gegen die SEM massive Proteste. Aber ist diese Frage wirklich wichtig für die ganze Stadt?
Die Verhinderung von Wohnungsbau ist ein rein örtliches Anliegen. Die Mobilisierung der Öffentlichkeit für den erforderlichen Wohnungsbau ist aber ein stadtweites Anliegen, das leider nicht mit der gleichen Betroffenheit und Intensität vertreten wird.
Wer sind die Protestler gegen die SEM?
Eine prominente Rolle spielt der ehemalige AfD-Mann Martin Zech. Die Initiative Heimatboden ist das Steckenpferd eines Großgrunderbens, der seine privaten Interessen mit seinen politischen harmonisch vermischt und das dann Heimatschutz nennt.
Es gibt dieses weit verbreitete Gefühl in der Stadt, dass in München die letzten Grünflächen zugebaut werden. Könnte es nicht auch eine Chance sein für Ihre Partei zu sagen: Wir unterscheiden uns von den anderen, wir sind die, die für viel bauen – damit bezahlbarer Wohnraum entstehen kann?
Richtig. Das kann sie – und das tut sie auch. Wobei zweifellos enger und dichter gebaut werden muss, als es vor Ort gerne gesehen wird. Wir brauchen Wohnraum für viele und so viel Grünfläche für alle, wie es nur möglich ist.
Und dafür steht die SPD?
Ich finde gut, dass sie die Stadtentwicklungsmaßnahme im Nordosten verteidigt – aber schwach, dass sie im Norden die Flinte angesichts der Gegner ins Korn geworfen hat. Man muss eben auch mal Stehvermögen zeigen, nicht nur linke Sprüche, sondern linke Politik machen – und dann auch durchhalten.
Haben Sie das gemacht? Die Mieten haben sich auch in Ihrer Amtszeit dramatisch entwickelt.
Richtig, weil Mieten immer steigen, wenn die Nachfrage schneller steigt, als der Neubau es bewältigen kann. Das sehen wir derzeit in fast allen deutschen Städten. Aber wir haben bei der Sobon die Grundstückseigentümer zur Finanzierung der Folgekosten herangezogen, Immerhin konnten wir Grundstückseigentümer zwingen, bis heute 800 Millionen Euro für Grünflächen, Spielflächen, Kindergärten, Kinderkrippen, Grundschulen und sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Die Neubauviertel sind sozialer geworden, als sie es ohne Sobon gewesen wären.
Auf das Umland kann die Stadt beim Wohnungsbau kaum noch setzen. Eine AZ-Umfrage unter den Bürgermeistern hat gezeigt, dass sie alle weniger Neubau wollen als zuletzt.
Deshalb ist es ja so wichtig, dass die Zentralstadt mit gutem Beispiel vorangeht und sich nicht durch Gegenwind einschüchtern lässt, denn den gibt es auch im gesamten Umland gegen Neubauprojekte.
Bodenpreise sollen mehr Aufmerksamkeit erzeugen
Welche Verantwortung tragen Münchens Unternehmen?
Es war ein großer Fehler, dass Münchner Dax-Unternehmen ihre Wohnungsbestände verkauft haben wie Sauerbier, um auf dem amerikanischen Subprime-Markt ihr Geld anlegen zu können. Nach der Finanzkrise 2007 kam der Schock, da haben sie gemerkt, dass ihre Wohnungen ein für alle Mal weg waren, die sie keiner Fachkraft mehr anbieten konnten. Und dann haben alle die Flucht ins Betongold angetreten – und zwar nicht nur die ansässigen Unternehmen, sondern nahezu alle Konzerne und der gesamte Kapitalmarkt.
Was Folgen hatte.
Wer 2008 ein Grundstück besaß, hatte am Ende des Kalenderjahres plötzlich den doppelten Wert. Solche Preissteigerungen drohen, soziales Bauen in aller Zukunft unmöglich zu machen. Ich behaupte: Die Entwicklung der Bodenpreise in Zeiten weltweiter Verstädterung gehört zu den Jahrhundertthemen wie der Klimawandel oder die Digitalisierung der Arbeitswelt.
Klimaschutz und Digitalisierung haben aber eine deutlich größere Öffentlichkeit.
Ja, das ist noch immer höchstens das Hobby einiger Journalisten, wie es auch das Hobby von ein paar Ex-Politikern ist – wie von Hans-Jochen Vogel und mir. Das Interesse der Parlamente hält sich hingegen in Grenzen. Wenn sich der Bodenpreis nochmal verdoppelt, dann kriegen Sie bezahlbaren Wohnraum nicht mehr hin, es sei denn, die öffentliche Hand zahlt alles, den Boden und den späteren Bau. Aber dann ist die öffentliche Hand überfordert.
Was also ist zu tun?
Wenn es eine Bremse gibt wie eben die Stadtentwicklungsmaßnahme, mit der man die Preise einfrieren kann, dann muss man dieses Gottesgeschenk auch annehmen. Meine Erfahrung bei der Sobon war: Mit keinem Bauträger hat man vorher über Preise reden können. Aber als die Stadt gesagt hat: Du kriegst überhaupt kein Baurecht mehr, wenn du dich nicht vorher vertraglich zu einem sozialen Verhalten verpflichtest, dann hat es funktioniert. Wären wir eingeknickt, dann hätten wir die 800 Millionen für soziale Zwecke nie bekommen.
So richtig treibt all das die Münchner Öffentlichkeit aber immer noch nicht um, oder doch?
Wenn jemand den Bierpreis um ein, zwei Euro erhöht, dann ist das ein Riesenskandal. Aber beim Boden geht es um Zahlen, die man sich in ihrer Höhe gar nicht mehr vorstellen kann. Und das ist das Problem. Was ich mir nicht vorstellen kann, macht mich auch nicht heiß.
Was ist also Ihr Wunsch?
Dass die Bodenpreise endlich so viel Aufmerksamkeit und Erregung erzeugen wie der Münchner Bierpreis.
Kurz erklärt: Sobon und SEM
Eine Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) soll der Stadt erleichtern, ein großes Gebiet mit vielen Eigentümern zu überplanen. Eine SEM ist auf Kooperation angelegt. Droht aber ein Grundstückseigentümer, den Bau eines neuen Wohnviertels zu blockieren, kann er enteignet werden – zumindest theoretisch. Sich komplett zu verweigern hat also keinen Sinn. Eine SEM soll Bodenspekulation verhindern und schöpft die Gewinne, die allein dadurch entstehen, dass Baurecht geschaffen wird, für die soziale und verkehrliche Infrastruktur ab.
Offiziell gibt es im Nordosten um Daglfing noch keine SEM, die Stadt lässt aber verschiedene Konzepte untersuchen. Die CSU hat sich Ende vergangener Woche abgewendet und will nicht mehr für die SEM stimmen. Eine Mehrheit im Stadtrat ist trotzdem denkbar, weil SPD und Grüne zu dem Instrument stehen.
Sicherheitshalber wurden die Bodenpreise im möglichen SEM-Gebiet schon eingefroren. Grundstückskäufer müssen damit rechnen, dass ihnen die Stadt die Fläche später zum eingefrorenen Preis abkauft.
Mit der Sozialgerechten Bodennutzung (Sobon) hat die Stadt 1994 ein Instrument geschaffen, um Bauträger zu einem bestimmten Anteil von sozial geförderten Mietwohnungen und zu einer Beteiligung an sozialen Kosten zwingen zu können. Im Gegenzug erhalten sie Baurecht. Sie müssen etwa einen Beitrag für neue Straßen, Schulen, Kitas und Grünflächen leisten. Der Nachteil des Instruments: Es gilt in der Regel für große Neubaugebiete, aber nicht, wenn etwa "nur" eine Baulücke geschlossen wird.
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