Interview

Chef der AG Phänomene über Schockanrufe: "Der Druck auf die Opfer ist enorm"

In München explodiert 2022 die Zahl der Schockanrufe. Und das, obwohl die Masche bekannt ist und viel darüber berichtet wird. Erstmals wird die Schadenshöhe den Rekordwert von fünf Millionen Euro erreichen.
von  Ralph Hub
Hans-Peter Chloupek leitet seit einigen Jahren die Arbeitsgruppe Phänomene, die sich mit falschen Polizisten und Schockanrufen beschäftigt.
Hans-Peter Chloupek leitet seit einigen Jahren die Arbeitsgruppe Phänomene, die sich mit falschen Polizisten und Schockanrufen beschäftigt. © Daniel von Loeper

München - AZ-Interview mit Hans-Peter Chloupek: Er ist Chef der AG Phänomene im Polizeipräsidium. Eine Spezialeinheit bei der Jagd auf organisierte Banden.

AZ: Herr Chloupek, es wird so viel vor Schockanrufen gewarnt, warum funktioniert die Masche trotzdem?
HANS-PETER CHLOUPEK: Es funktioniert, weil die Leute glauben, ein Verwandter ruft an, weint und braucht Hilfe. Die Opfer sind so sehr leicht zu manipulieren. Das Gespräch nimmt sofort eine völlig andere Dimension an. Es entsteht beim Opfer eine Befangenheit, die es in dieser Form zuvor nicht erlebt hat.

Wie hoch ist der Gesamtschaden 2022?
Wir müssen davon ausgehen, dass sich der Gesamtschaden dieses Jahr auf rund fünf Millionen Euro alleine in München summiert. Im November hatten wir neun vollendete Taten mit einem Schaden von einer Million Euro. Die Fälle nehmen zu und auch der Schaden.

München: Neue Täter, neue Methoden

Woher rührt diese enorme Steigerung?
Es ist seit Anfang des Jahres eine Tätergruppierung aktiv, die neue Methoden anwendet. Es wird arbeitsteiliger vorgegangen. Das heißt, es sind zwei oder drei Täter an einem Opfer dran, zudem sind parallel mehrere Abholer gleichzeitig in der Stadt unterwegs, die zu den Adressen geschickt werden, wo sie die Beute holen. Geld und Gold gehen innerhalb kürzester Zeit durch immer mehr Hände. Zudem wurde die Logistik verändert. Es gibt Leute, die beschaffen für die Täter die Handys, andere die SIM-Karten. Das Geschäft ist europaweit organisiert.

Warum erkennen die Angehörigen nicht sofort, dass sie nicht von einem Verwandten angerufen werden?
Das stimmt, normalerweise würde man die Stimme erkennen. Aber das ist eine völlig andere Situation. Hier geht es nicht um ein Alltagsthema, um Geplauder, hier sieht man sich mit einer Geschichte konfrontiert, bei der es einem Angehörigen angeblich sehr, sehr schlecht geht. Zudem geht es um einen tragischen Todesfall. Dazu wird am Telefon geschrien und geweint. Die Opfer haben es in dieser Situation sehr schwer, das Spiel zu durchschauen.

"Beim Schockanruf sind die Opfer sofort persönlich betroffen"

Wie funktioniert das Rollenspiel der Täter?
Ein Beispiel: Eine Frau ruft an, gibt sich als Tochter oder Enkelin aus. Dazu wird am Telefon heftig geweint, geschrien und geschluchzt. Schnell übernimmt ein Komplize, der gibt sich als Polizist, Staatsanwalt oder Richter aus. Eine Drohkulisse wird aufgebaut. Der Angehörige müsse ins Gefängnis. Einziger Ausweg sei eine hohe Kaution.

Wird da nicht so dick aufgetragen, dass man misstrauisch werden müsste?
Wenn ich zu Hause entspannt auf dem Sofa sitze und das wie in einem Krimi verfolge, kann ich das natürlich durchschauen. Beim Schockanruf sind die Opfer aber sofort persönlich betroffen. Sie denken, ein Angehöriger ist in Not. Alle Opfer sagen später, von außen betrachtet, wäre es vielleicht möglich gewesen, das Spiel zu durchschauen, aber sie sind in diesem Moment selbst plötzlich tief verstrickt in die Sache. Da gibt es keine Distanz, keine Möglichkeit, durchzuatmen, nachzudenken.

Wie erzeugen die Täter diesen Druck?
Je dramatischer die Situation dargestellt wird, umso besser funktioniert die Masche. Mit einem weinenden Angehörigen, einem Todesopfer und dem Druck, schnell helfen zu müssen, gelingt es den Tätern relativ einfach, die Opfer in die Enge zu treiben. Geld könne dem Angehörigen eine Haft ersparen. Der psychologische Druck ist so groß, dass viele Opfer bereit sind, all ihre Ersparnisse, all ihre Rücklagen dafür einzusetzen. Kurz vor der Übergabe realisieren viele Opfer, das könnte Betrug sein. Aber dann ist der Druck so groß, dass die Opfer übergeben müssen, weil sie nur so aus der Drucksituation rauskommen.

Wie drohen die Täter?
Oft behaupten sie, der Deal, den sie vorschlagen, sei augenblicklich vom Tisch, wenn nicht sofort getan wird, was verlangt wird. Zudem verbieten sie den Opfern, mit anderen Menschen auch nur ein Wort darüber zu reden, andernfalls sei der Deal auch geplatzt. Oft kommt auch die Drohung, man werde den Fall an die Medien weitergeben. Das ist natürlich alles kompletter Unsinn.

Chloupek: "So arbeiten Polizisten nicht"

Was sind Warnzeichen, dass man an Betrüger geraten ist?
Niemals würde ein echter Polizist so ein Gespräch am Telefon führen, niemals würde er Geld, Gold oder Schmuck fordern. So arbeiten Polizisten nicht, das muss jedem klar sein.

Wie verhält sich ein echter Polizist?
Wenn es tatsächlich einen tödlichen Verkehrsunfall gegeben hat, würde die Polizei das nicht einem Angehörigen am Telefon mitteilen. Niemals würde so eine dramatische Situation aufgebaut werden. In dem Moment, wo geschrien, geweint oder gedroht wird, sollte man sofort auflegen.

Das traut sich aber nicht jeder. Darf ich auflegen bei der Polizei?
Natürlich dürfen sie das tun. Mein Appell: lieber ein bisschen unhöflicher sein, als dann am Telefon alles zu beantworten. Bei einem Verkehrsunfall mit einem Toten würde jemand von der Polizei vorbeikommen, oder man würde den Betreffenden auf die Dienststelle bitten.

Die Banden scheinen ihre Arbeitsweise anzupassen. Was hat sich geändert?
Die Täter sind extrem gut geschult, sie wissen genau, wann ein günstiger Zeitpunkt gekommen ist, den Druck noch mehr zu erhöhen. Beispielsweise, wenn das geforderte Geld oder Gold bereits im Haus des Opfers bereitliegt, dann wird der Druck systematisch immer weiter gesteigert.

Wie kommt das Geld ins Ausland?
Der Abholer gibt die Beute sehr schnell weiter. Das ist in Deutschland nicht anders als in Österreich oder der Schweiz. Geld, Gold und Schmuck werden schnell ins umliegende Ausland geschafft, dort gesammelt und 'gewaschen', um die Herkunft des Geldes zu verschleiern. Erst dann wird das Geld transferiert - nach Polen oder Tschechien. Die Täter gehen schneller vor, als es früher der Fall war.

Die Täter sitzen in Polen

Wo sitzen die Banden?
Das sind unterschiedliche Familienclans. Eine Gruppierung hat früher den Enkeltrick verwendet, heute benützt sie Schockanrufe. Diese eine spezielle Gruppe sitzt in Polen, dort sind auch die Callcenter, von denen aus angerufen wird. Manche sprechen auch gut Italienisch und sind entsprechend in Norditalien aktiv. Die Täter haben oft lange in Deutschland gelebt, sind hier teilweise auch aufgewachsen, deshalb sprechen sie akzentfrei Deutsch.

Was ist mit den Callcentern in der Türkei passiert?
Da sind uns in Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden zuletzt große Fahndungserfolge gelungen. Im Oktober ist uns ein riesen Schlag geglückt, danach sind die Fallzahlen in München stark zurückgegangen. Es gab seitdem keine erfolgreiche Volltat mehr in der Stadt. Etliche Bandenmitglieder sitzen inzwischen in der Türkei in U-Haft und werden dort vor Gericht gestellt.

Frustriert es Sie, dass hier meist nur die Abholer, die kleinen Fische ins Netz gehen?
Das stimmt so nicht. Auch die Abholer gehören zur Bande, sind vollwertiges Mitglied. Sie tragen das höchste Risiko, erwischt zu werden. Wir haben aber auch Täter der höheren Ebene gefasst. Aus jedem Abholer, den wir festnehmen, ergeben sich eine Menge Hinweise. Über diese Spuren versuchen wir, auch an Hinterleute, Personen der Führungsebene heranzukommen. Dazu arbeiten wir beispielsweise mit Polizei und Justiz in Polen und Tschechien zusammen. Die Kooperation wird immer besser, deshalb sind auch die Bandenbosse nicht in Sicherheit.

Was ist aus dem Enkeltrick geworden? Stirbt der aus?
Momentan ist es ruhig. Doch wenn etwas Zeit vergangen und das Thema nicht mehr so präsent ist, könnte es sein, dass der Enkeltrick eines Tages wieder zunimmt. In München spielt er derzeit keine Rolle.

Schwere Traumata für die Opfer der Schockanrufe

Was sind abgesehen von den finanziellen Verlusten die Folgen bei den Opfern?
Denen geht es sehr schlecht, um es deutlich zu sagen. Wir haben Opfer aus 2017, die immer noch schwer traumatisiert sind, die immer noch in therapeutischer Behandlung sind. Es gab auch Fälle, da haben sich Menschen aus Scham das Leben genommen. Das ist das Perfide, die meist älteren Leute schämen sich und machen sich selbst massive Vorwürfe.

Wie reagieren die Opfer, wenn sie vor Gericht als Zeugen aussagen?
Das ist für die Opfer oft belastend. Sie durchleben die Tat praktisch noch einmal, wenn sie dem Gericht ihre Erlebnisse schildern. In Einzelfällen versuchen wir, psychologische Hilfe zu vermitteln. Gut ist immer, wenn ein Opferanwalt eingeschaltet ist.

Wie hoch sind die Chancen, sein Geld wieder zurückzubekommen?
Wenn wir einen Abholer erwischen, stellen wir fest, dass er von mehreren Opfern Geld bei sich hat. Das versuchen wir entsprechend zuzuordnen. Das Geld, das er eine Woche zuvor irgendwo abgeholt hat, ist weg und längst ins Ausland verschoben.

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