Bürger, Helfer, Klienten
Auf die Arbeitnehmer-Freizügigkeit antwortet die CSU mit ihrer Betrüger-Kampagne: Wie leben Bulgaren und Rumänen in München? Eine Spurensuche
München Dieses Jahr noch. Dieses Jahr will es Veselin Mitev noch probieren: „Ich will doch nur eine richtige Arbeit“, sagt der Mann aus der Nähe von Sofia. Ja, und eine Wohnung, und dann irgendwann „die Familie holen“. Die Frau und die drei Kinder sind in Bulgarien. Aber jetzt: „Keine Chance“, sagt er. „Keine Chance“ – das sind die einzigen Worte, die dem 40-Jährigen flüssig auf Deutsch über die Lippen kommen.
„Ich habe auch kein Wort deutsch gesprochen“, sagt Paul Peteanu. 1997 war das, mit 22, als er nach München kam: „Heute dolmetsche ich bei Gericht und mache technische Übersetzungen.“ Nein, „diese ganze Diskussion, die versteh ich nicht“, sagt er. „Diese ganze Diskussion“, das ist der Aufruhr, den die CSU um den Jahreswechsel losgetreten hat mit dem Slogan: „Wer betrügt, der fliegt“. Die Kampagne, die Rumänen und Bulgaren pünktlich zur vollen Freizügigkeit unter den Generalverdacht der Sozialschmarotzerei stellt.
Die AZ wollte wissen: Wie sind, wie leben Bulgaren und Rumänen in München? Antwort eins: „Die Bulgaren“ und „Die Rumänen“ gibt es nicht.
Da ist Andreea Untaru. 2001 kam sie aus Rumänien nach Deutschland, zum Studium. „Damals waren wir noch nicht in der EU. Ich durfte begrenzt arbeiten.“ Heute leitet die 34-Jährige die „Schiller 25“, die „Migrationsberatung Wohnungsloser“. Von der Stadt gefördert berät das evangelische Hilfswerk in der Schillerstraße die, die ganz unten ankommen – die Armutsmigranten, vor denen die CSU solche Angst hat.
Täglich bis zu 120 bis 180 „Klienten“ haben Frau Untaru und ihr Team von 20 Helfern. Keineswegs nur Bulgaren und Rumänen. Der erste heute ist ein Pizzabäcker aus Italien. „Ich kenne keinen, der hierher kommt, um Sozialleistungen zu erschwindeln“, sagt die Sozialpädagogin: 90 Prozent sind Männer, so wie Veselin Mitev, zwischen 20 und 50, und alle fragen: „Wo finde ich Arbeit?“ Wisst ihr nicht einen Job zum Putzen, in einem Restaurant, auf dem Bau?
Bisher gibt es nur leere Versprechungen und Gelegenheitsjobs für Herrn Mitev – und heute Nacht einen Schlafplatz in der ehemaligen Bayernkaserne. 390 Schlafplätze hält die Stadt dort vor – unter Bedingungen: „Heute Nacht ist Frost vorhergesagt, da dürfen wir einweisen“, erklärt Yana Krauße. ebenfalls Sozialpädagogin bei „Schiller 25“. Sie kommt aus Bulgarien. „Diese Menschen sind aus Verzweiflung hier, nicht aus Spaß.“
Viele leben auf der Straße, in Wohnwagen, ein paar Tage bei Bekannten. Sozialschmarotzer? „Es gibt sogar Klienten, die wären anspruchsberechtigt, weil sie ein halbes Jahr sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. Sie leben aber trotzdem auf der Straße“, so Yana Krauße.
„Wir beraten unsere Klienten, wo sie zum Arzt gehen können, zum Zahnarzt, wo sie eine Rückfahrkarte bekommen“, sagt Frau Krauße. Aber: „Dort ist es nicht besser.“ Dort in Rumänien oder in Bulgarien, wo auch Maria Stoyanova herkommt: „Meine zwei Kinder sind bei der Oma“, sagt die 33-Jährige. Seit einem Monat schlägt sie sich in München durch. „Gelegentlich kann ich putzen – ein, zwei Stunden für acht Euro die Stunde.“
Auch die junge Mutter braucht einen Schlafplatz für die Nacht, deshalb ist sie in der Schillerstraße. Wer kümmert sich um ihre Kinder? „Die Oma, daheim in Bulgarien“, sagt Frau Stoyanova. Es gibt dort die Familie, aber keine Jobs. Bekommt sie die Diskussionen mit? Frau Stoyanova schüttelt müde den Kopf. „Unsere Klienten lesen keine Zeitungen, sehen kein TV“, erklärt Andreea Untaru. „Sie wollen nur hier arbeiten.“
Sie sind an der Front hier bei Schiller 25, und sie möchten eigentlich nicht über Politik reden. Nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. „Ich bin vor 13 Jahren hierher gekommen, weil ich gehört habe, in Deutschland verdient man besser“, sagt die Sozialpädagogin Untaru. „Das ist bei unseren Klienten nicht anders.“
Christina Peteanu mag durchaus über Politik reden: „Das tut schon weh“, sagt die Germanistin über die Vorurteile, die wieder geschürt werden. Seit ihrem sechsten Lebensjahr lebt sie in Bayern. 1995 lernte sie Paul kennen in Rumänien. Seit 1997 leben sie in München, sind verheiratet, haben einen Sohn. Sie unterrichtet Deutsch für Ausländer, er dolmetscht und übersetzt für Behörden und Konzerne. Sie sind, wie man so hässlich sagt: ein Musterbeispiel an Integration.
„Aber die Vorurteile spüren wir schon“, sagt die 39-Jährige: „Juchhu, habe ich gedacht, als ich das mit den Sozialbetrügern aus Rumänien hörte“, erzählt sie sarkastisch: „Da braucht Paul seine nächste Bewerbung gar nicht erst abschicken!“ Er hat Agrarwissenschaften studiert, macht neben seinen Jobs das Studium zum internationalen Betriebswirt: „300 Bewerbungen hab ich losgeschickt, bisher nur Absagen“, sagt er. „Also müssen wir mehrere Jobs machen.“
„Das mit dem Namen ist ein Nachteil“, sagt Frau Peteanu: Sie haben einige Freunde, die ihre Namen geändert haben. „Rumänien hat halt dieses Image aus den neunziger Jahren, mit den Waisenhäusern“, sagt sie. „Manche Münchner sind ganz überrascht, dass es in Bukarest auch Theater und Ballett gibt.“
Christina Peteanu kennt sich aus mit Kultur. Nebenher arbeitet sie als Schauspielerin: freie Theater, Synchron-Rollen: „Und wissen Sie, wie Sie als Rumänin besetzt werden? Als Prostituierte, als Putzfrau, als Flüchtling, der kein Deutsch spricht.“ Schon mehrmals mahnte sie ein Regisseur, sie solle doch „mehr Akzent“ in ihre Sprechrollen bringen. Die Kulturindustrie als Förderband für Klischees.
Und dann ist da Lenny, der gemeinsame Sohn. Er ist 15, geht in München aufs Gymnasium: „In der Schule hat der Lehrer ihn schon mal angeschaut und gesagt: Ihr Zigeuner klaut doch alle!“ Es sollte wohl ein Scherz sein, aber Lenny fand das nicht komisch.
An seinen Sohn denkt Paul, wenn er sagt: „Mit dieser aktuellen Kampagne werden die Ressentiments in die nächste Generation weitergetragen.“ Deutschland profitiere vom Fleiß und dem Eifer der Zuwanderer, sagt Paul Peteanu. „Freizügigkeit, das ist doch die Idee von Europa“, sagt er, und Deutschland sei der Gewinner. „Wir kennen Ingenieure aus Rumänien, die verdienen hier 2000 Euro, und die deutschen Kollegen bekommen für den selben Job 10000.“ Und in Christinas Deutschkursen sitzten „Akademiker, die als Hausmeister arbeiten“.
Den Peteanus, den Sozialpädagoginnen Yana Krauße und Andreea Untaru, und der Gelegenheits-Putzfrau Maria Stoyanova: Allen schadet die aufgebauschte Diskussion um Sozialbetrüger. Und Veselin Mitev wird es noch schwer fallen, in diesem Jahr endlich den festen Job in Deutschland zu finden. Was er dann machen will? „Vielleicht in eine andere Stadt.“ Oder zurück nach Bulgarien? „Niemals!“ Matthias Maus