Bitterer Umzug: 90-Jährige aus Wohnung geklagt
Rosa Stock ist zum Umzug gezwungen. Aus einer Wohnung, in der die Rentnerin 54 Jahre lang gelebt hat. Sie sagt, das habe sie „fertig gemacht“.
München - Rosa Stock nimmt ihren Strolchi vom Regal. Er ist verstaubt. „Den habe ich 1959 einschläfern lassen“, sagt Stock. Strolchi ist kein echter Hund. Er ist ein Stofftier, das ihrem alten Welsh-Terrier ähnlich sieht. Rosa Stock weiß das. Aber sie scherzt gern mit den Gästen, die ohne Einladung in ihrem Wohnzimmer stehen.
Mit so vielen Menschen hat sie heute nicht gerechnet. Drei Jungs, die ihr beim Packen helfen, darauf hat sie sich eingestellt. Jetzt laufen sieben Leute durch ihre Wohnung. Das Gewusel zwischen den Umzugskartons bedeutet für die 90-Jährige Stress. Sie geht von einem Zimmer ins andere und schaut, was die Menschen dort machen.
Das Telefon läutet, kurz darauf die Türglocke. Rosa Stock setzt sich auf ihren Stuhl in der Küche.
„Ich pack' das nimmer“, hat sie gesagt, als ihr Vermieter sie im letzten Jahr zum Umzug überreden wollte. Zwei Tage später lag die Kündigung in ihrem Postkasten. Rosa Stock war schockiert. Seit 71 Jahren lebt sie in dem Haus in der Bergmannstraße, seit 54 Jahren in derselben Wohnung im obersten Stockwerk. Das will der Vermieter nun renovieren und zu einer großen Dachgeschosswohnung ausbauen. Deshalb soll Rosa Stock raus (AZ berichtete).
Sie geht zum Mieterverein. Dort lernt sie die Anwältin Silke Ackermann kennen. Nur durch deren Unterstützung kann sich Stock vor dem Münchner Amtsgericht gegen die Forderungen des Vermieters verteidigen. Das Gericht muss abwägen, zwischen der „Hinderung an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks“ und der Härte, die ein Rausschmiss für eine alleinstehende 90-jährige Rentnerin bedeutet.
„Schaun’S“, sagt Rosa Stock in ihrer Küche zu den freiwilligen Umzugshelfern von verschiedenen Wohninitiativen, „mir schlenkern die Knie, wenn ich an die Sache denke.“
Zum ersten Mal in ihrem Leben saß sie im Mai vor Gericht. Der Vermieter machte ein Angebot: eine Wohnung zwei Stockwerke tiefer für 730 Euro warm. Bisher zahlt Stock 250 Euro. Für ihre langjährige Arbeit als Bedienung bekommt sie eine Rente von 900 Euro. „Das hätte ich mir niemals leisten können.“
Ihre Finger spielen mit Tabletten, die auf dem Küchentisch neben einem alten Vierband-Radio liegen. Die Helfer stehen halb im Gang, hören zu und essen Butterbrezn. Dann klingelt es wieder. Ein Mann kommt schnaufend in die Wohnung: „Ihre Zeitung und Ihr Lotto.“ Rosa Stock bedankt sich. „Sehen Sie“, sagt sie wieder zu den Helfern, „ich kann hier nicht weg. Ich bin hier daheim.“ Dann erzählt sie, wie es vor Gericht ausging.
Es gab einen Vergleich. Rosa Stock muss in den zweiten Stock ziehen, zahlt für die neue Wohnung aber nur 320 Euro warm. Das kann sie sich noch leisten. Glücklich sieht sie trotzdem nicht aus. Sie geht jetzt durch ihre neue Wohnung im zweiten Stock, eine renovierte Eineinhalb- Zimmer-Wohnung, die durch Trennwände in Räume eingeteilt ist. Um sie herum stehen die Umzugshelfer. Alle reden ihr gut zu, die neue Wohnung sei schön und sie schaffe das alles wunderbar.
„Die Fitness ist nur äußerlich“, sagt Rosa Stock dazu. Sie habe seit dem Urteil weniger gegessen und mehr geraucht. „Die Gedanken an den Umzug haben mich fertig gemacht“, gibt sie zu. Ihre Augen werden wässrig. „Ich hatte in den letzten Wochen mehr schlaflose Nächte als mein ganzes Leben davor.“
Jetzt sitzt sie erschöpft zwischen den Umzugskisten in ihrer neuen Wohnung. „Wenn ich die ganzen Kartons nur anschaue – mein lieber Herr Kanzleirat.“ Am Donnerstag wird ein Umzugsunternehmen die großen Möbel aus der alten Wohnung nach unten bringen. Auch die freiwilligen Helfer werden noch mal kommen, um ihr zu helfen. Alleine würde sie es nicht schaffen.
„Ich bin den lieben Leuten so dankbar" sagt Stock, die überrascht ist, dass so viele Initiativen sich um sie kümmern. Nach der AZ-Berichterstattung sind neben der Aktionsgruppe Untergiesing auch die Initiative „Bezahlbarer Wohnraum Schwanthalerhöhe“ und die „Interessensgemeinschaft Wohnanlagen am Perlacher Forst und Tegernseer Landstraße“ auf den Fall aufmerksam geworden.
Rosa Stock dankt jetzt auch ihrer Anwältin vom Mieterbund, Silke Ackermann. „Mit der Frau Doktor Ackermann hab ich wirklich einen guten Griff gemacht“, sagt sie und schnauft tief. Sie beruhigt sich ein wenig. Ihrem Vermieter sei sie nicht böse, jetzt gebe es ja eine Lösung. „Zuerst war ich am Boden zerstört, aber jetzt versuche ich irgendwie optimistisch zu sein“, sagt sie tapfer – „weil ich halt muss.“
Auch wenn sich Rosa Stock mit dem Gedanken an eine neue Wohnung abfindet, strengt sie der Umzug sehr an. Nicht nur körperlich. Sie fühlt sich allein im zweiten Stock. „Von den Nachbarn kenne ich niemanden“, erzählt sie. „Alle neu seit der Renovierung.“
Verwandte hat sie nicht mehr. Nur die Erinnerungen an sie. Und die muss sie jetzt aussortieren. Zum Beispiel das Mobile mit den Fischen. „Mein Lebensgefährte war Fischer“, sagt Rosa Stock. Er ist schon vor Jahren gestorben. Das Mobile war eine Erinnerung an ihn. In der neuen Wohnung hat sie keinen Platz dafür. Darum liegt das Erinnerungsstück jetzt irgendwo in einem blauen Müllsack. Rosa Stock macht den Sack auf und wühlt darin herum. Sie findet nur eine braune Keramikkugel mit Beeren aus Plastik daran.
Das Mobile mit den Fischen ist weg.
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