Bis heute vermisst - Die AZ besucht den BRK-Suchdienst

1,3 Millionen Weltkriegs-Schicksale sind noch immer ungeklärt. Ein Besuch beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in München, der jetzt auch Tausenden Flüchtlingen hilft.
Natalie Kettinger |
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Die "Zentrale Namenskartei" des DRK-Suchdienstes umfasst Angaben zu rund 27 Millionen Menschen. Seit einigen Jahren sind die Daten digital gespeichert – genau wie die rund eine Million Fotos von Vermissten, die man in München aber auch noch in Papierform sehen kann.
nk, DRK/Urban Die "Zentrale Namenskartei" des DRK-Suchdienstes umfasst Angaben zu rund 27 Millionen Menschen. Seit einigen Jahren sind die Daten digital gespeichert – genau wie die rund eine Million Fotos von Vermissten, die man in München aber auch noch in Papierform sehen kann.

München - Jahrzehnte lang wusste Günther Pelekies weder seinen richtigen Namen, noch wer seine Eltern waren. Auch von seiner älteren Schwester ahnte er nichts. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs war der Bub 1944 bei Memel (heute Klaipeda in Litauen) von seiner Familie getrennt worden. Das Zwergerl, noch keine zwei Jahre alt, wurde von Kinderheim zu Kinderheim weitergereicht und schließlich von einer Dresdner Familie adoptiert.

Heute weiß Pelekies (74), wer er ist. Und er hat seine Schwester Christel (80) kennengelernt. Der in München ansässige Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes hat die beiden zusammengeführt, nach 72 Jahren schlossen sie sich wieder in die Arme. "Ich konnte es nicht fassen, als mein Bruder vor mir stand", sagt Christel voller Rührung.

1,2 Millionen Schicksale wohl für immer ungklärt

Das letzte Mal hatte sie ihn, fast noch ein Baby, im Krankenhaus von Memel gesehen. All die Jahre war ein unscharfes Foto alles, was ihr von ihm geblieben war.

In den ersten Nachkriegsjahren fanden sich 20 Millionen Deutsche wieder. Bis in die 1950er konnten die DRK-Mitarbeiter 8,8 Millionen weitere Schicksale klären. Seit 1959 kamen noch einmal 1,2 Millionen erfolgreich bearbeitete Suchanfragen hinzu.

Doch der Verbleib von 1,3 Millionen Menschen wird wohl für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben. "Das ist die Einwohnerzahl einer Großstadt, beinahe die von München", sagt Suchdienst-Leiter Thomas Huber.

Noch immer suchen Menschen nach ihren Lieben, wollen Kinder oder Enkel wissen, wo der Vater oder Großvater im Krieg "geblieben" ist: Knapp 9.000 Anfragen erreichen die Rotkreuzler jedes Jahr. "Für viele Angehörige ist das immer noch ein schwarzer Punkt auf der Familienlandkarte. Diese Fälle bearbeiten wir auch aktiv."


Mit Foto-Plakaten wie diesem wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Eltern von etwa 300.000 Kindern gesucht. 4000 fanden ihre Familien nie. (Foto: nk, DRK/Urban)

Läuft im Fernsehen eine Weltkriegs-Serie wie 2013 "Unsere Mütter, unsere Väter", steigt die Zahl der Anrufe im Münchner Büro leicht an. Dasselbe gilt im Umfeld von Jahrestagen, wie dem der deutschen Kapitulation in Stalingrad am gestrigen Freitag.

Können zerrissene Familienbande wieder verknüpft werden und stehen sich am Ende tatsächlich zwei Menschen gegenüber, die jahrzehntelang getrennt waren, sind es heute meist Geschwister wie Christel und Günther Pelekies. "Fälle wie dieser berühren uns", sagt Thomas Huber.

Doch die Chancen, etwas über das Los der 1,3 Millionen Verschollenen zu erfahren, schwinden stetig. Die allermeisten waren Soldaten. Einzelne werden in Italien und Frankreich vermisst, die große Mehrheit in Osteuropa.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR erhielten die Münchner zwar Zugriff auf die ehemals sowjetischen Kriegsarchive. Viele deutsche Gefangene waren dort erfasst, oft mit Sterbedatum und Begräbnisort. "Aber diese Quellen sind ausgenutzt", sagt Thomas Huber. "Im Zweiten Weltkrieg gab es nicht mal einen gesicherten Postweg. Da sind Leute einfach verloren gegangen - da kriegen Sie heute keine Informationen mehr."

Wohl auch deshalb hat der Bund angekündigt, der Weltkriegs-Abteilung des Suchdienstes Ende 2023 die Mittel zu streichen. Das Bedauern in der Münchner Zentrale ist groß. "Wir werden versuchen, in den verbleibenden Jahren noch möglichst viele Fälle zu klären", verspricht der Chef.

Das Sachgebiet "Internationale Suche und Familiennachrichten" soll hingegen fortbestehen. Leiterin Marina Brinkmann und ihre Mitarbeiter sind immer dann gefordert, wenn Bundesbürger im Ausland vermisst werden (etwa bei dem verheerenden Tsunami 2004 in Südost-Asien), wenn ein Ausländer in Deutschland verschollen scheint - oder sich der Suchende hier aufhält. Seit dem Migrations-Sommer 2015 stehen die Telefone des Teams kaum noch still. "2016 und 2017 hatten wir jeweils knapp 3000 Fälle. Im Vergleich zu vorher ist das eine Verdreifachung", sagt Marina Brinkmann.


Altbewährtes Prinzip: Mit Foto-Postern und einer Bilddatenbank im Internet sucht das Rote Kreuz heute nach den Familien von Flüchtlingen. (Foto: nk, DRK/Urban)

Wieder setzt das DRK bei der Suche auf Fotos. Nach dem Krieg gaben die Münchner Bücher mit den Bildern vermisster Soldaten heraus, die sie Heimkehrern vorlegten. Heute stellen sie Aufnahmen von Geflüchteten, die den Kontakt zu ihren Angehörigen verloren haben, auf der Homepage www.tracetheface.org ins Internet. Tausende Fotos sind dort abrufbar, weltweit.

Das Projekt funktioniert: Marina Brinkmann zeigt das Video einer Afghanin, deren Sohn nach Europa geflüchtet war. Acht Jahre lang hatten die beiden keinen Kontakt - bis Nachbarn das Bild des jungen Mannes im Internet entdecken. Das Rote Kreuz vermittelt ein Video-Telefonat, weinend vor Glück drückt die Mutter den Laptop an ihre Brust.

Nicht immer haben die Gegenwarts-Geschichten ein Happy End. "Viele Anfragen betreffen Kinder, die im Mittelmeer ertrunken sind", erzählt Marina Brinkmann. Dann bittet sie die Eltern, körperliche Merkmale ihres Kindes aufzuschreiben - als Identifizierungshilfe für die Forensiker in Italien oder Griechenland. "So etwas nimmt man abends mit nach Hause", sagt Marina Brinkmann ernst. Dann lächelt sie. "Aber auf der anderen Seite gibt es nichts Schöneres, als wenn jemand den Computer-Bildschirm umarmt."

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