Interview

Betriebsratschefin der München Klinik: "Die Pflegekräfte weinen nur noch"

Weil der Druck zu hoch ist, läuft der München Klinik das Personal davon. Warum daran nicht nur die Politik in Berlin, sondern auch in München schuld ist, erklärt die Chefin des Betriebsrats.
von  Christina Hertel
Weil die Belastung so groß ist, haben viele Pfleger gekündigt. Bis zu 500 Betten musste die München Klinik deshalb sperren.
Weil die Belastung so groß ist, haben viele Pfleger gekündigt. Bis zu 500 Betten musste die München Klinik deshalb sperren. © picture alliance/dpa/dpa Pool

AZ-Interview mit Ingrid Greif: Ende der 80er fing Greif als Krankenpflegerin an. Inzwischen ist sie die Vorsitzende des Gesamtbetriebsratsder München Klinik.

München Klinik schlägt Alarm: Personal ausgebrannt und Fehler in Chefetage

Während Corona wurde für Pfleger und Ärzte geklatscht. Wie viel ist von der Solidarität übrig geblieben? Ingrid Greif, die Betriebsratsvorsitzende der München Klinik, meint: nichts. Denn so schlimm wie heute sei die Lage nie gewesen. Gleichzeitig hat Greif die Sorge, dass die städtischen Krankenhäuser bald noch mehr sparen müssen. Denn das Jahr schließt die München Klinik mit einem dicken Minus von 36 Millionen Euro ab. Im AZ-Interview erzählt Greif, wie es dem Personal wirklich geht - und welche Fehler die Geschäftsführung, aber auch das Münchner Rathaus machen.

Prämien für Pfleger? Die Chefin des Betriebsrats Ingrid Greif glaubt: Das ist Geldverschwendung. Auch bei der Klinik-Sanierung in Bogenhausen wurde aus ihrer Sicht viel Geld in den Sand gesetzt.
Prämien für Pfleger? Die Chefin des Betriebsrats Ingrid Greif glaubt: Das ist Geldverschwendung. Auch bei der Klinik-Sanierung in Bogenhausen wurde aus ihrer Sicht viel Geld in den Sand gesetzt. © Daniel von Loeper

AZ: Frau Greif, kurz nach dem Oktoberfest hieß es aus der München Klinik: Die Patienten stapeln sich auf den Fluren. Wie ist die Lage aktuell?
Ingrid Greif: Besser als direkt nach dem Oktoberfest. Aber die Lage bleibt schwierig.

Was heißt das konkret?
Weiterhin sind viele Betten gesperrt, teilweise waren es bis zu 500, weil Personal fehlt. Die Leute können nicht mehr, werden krank oder gehen.

Pflegekräfte: Gezwungen, schlechte Arbeit zu machen

Warum kündigen die Pflegekräfte?
Keiner hält es lange aus, wenn er gezwungen wird, schlechte Arbeit zu machen. Ich kann es Ihnen an einem Beispiel erklären: Stellen Sie sich vor, ein Schlaganfallpatient läutet, weil er auf Toilette muss. In der Ausbildung lernen wir, dass wir reingehen, den Patienten über die gelähmte Seite an die Bettkante mobilisieren, ihm den Rücken abklopfen, um eine Lungenentzündung zu verhindern, langsam mit ihm aufstehen und während wir mit ihm zur Toilette gehen, machen wir gleich Sprachübungen. Das Ganze dauert mindestens 20 Minuten.

Heute sieht die Situation so aus: Der Patient läutet, die Pflegekraft stürmt rein und gibt dem Patienten die Schüssel. Wenn der Patient fragt, ob er nicht auf die Toilette gehen kann, antwortet die Pflegekraft: Es tut mir wirklich leid, aber es geht nur die Schüssel - weil einfach nicht genug Zeit da ist. Dabei wissen wir, dass wir so dafür sorgen, dass viele Menschen im Anschluss ins Heim müssen oder häusliche Pflege brauchen. Auch Nachtschichten sind oft schlimm. Da kommt es vor, dass eine Pflegekraft mit bis zu 35 Patienten alleine ist. Wo geht man hin, wenn fünf Glocken läuten? Es herrscht viel Angst. Die Pflegekräfte sitzen oft bei mir und weinen nur noch.

Wenn ich heute mit dem Rad einen Unfall habe - muss ich mir Sorgen machen, nicht gut versorgt zu werden?
Ich glaube: Sie müssten sich inzwischen in jedem Krankenhaus in Deutschland Sorgen machen, weil die Personaldecke überall viel zu dünn ist. Es gibt Studien aus den USA, die ganz klar belegen: Wenn die Zahl der Pfleger runtergeht, steigen die Sterbefälle.

Während Corona wurde für die Pflege viel geklatscht. Hat sich auch etwas verbessert?
Die reale Situation hat sich verschlimmert. Die Politik hat nur dumme Prämien ausbezahlt. Die neueste Prämie vom Bund bekommen nur Pflegekräfte, die direkt am Bett arbeiten. Gutes Geld, um die 2.000 Euro, steuerfrei. Aber alle, die zum Beispiel in Notaufnahmen arbeiten gehen leer aus, und auch alle Hebammen und alle Pflegehelfer kriegen nichts. Natürlich ist es schön, wenn man Geld kriegt. Aber das ist nicht nachhaltig. Herr Lauterbach sollte lieber das Krankenhausfinanzierungsgesetz ändern.

Krankenhausfinanzierungsgesetz muss geändert werden

Was läuft da schief?
Bis in die 80er Jahre war es verboten, dass Krankenhäuser Gewinne machen. Doch mit der zunehmenden Privatisierung des Gesundheitssystems in den 90ern ist es ein Ziel, mit Krankheit Gewinne zu machen. Kommunale Krankenhäuser haben in diesem System kaum eine Überlebenschance.

Warum ist das so?
Ein Problem ist das System der Fallpauschalen. Für bestimmte Diagnosen bekommt ein Krankenhaus einen bestimmten Betrag an Geld. Das Perverse ist: Mit kurzen, knackigen Operationen machen Krankenhäuser relativ viel Geld. Für einen Kaiserschnitt bekommen sie mehr als für eine normale Geburt, obwohl die viel mehr Hebammen bindet. Oder: Die Amputation eines diabetischen Fußes bringt viel mehr Geld, als wenn man sich Mühe macht und den Fuß erhält. Aus dem Grund konzentrieren sich die privaten Kliniken oft auf orthopädische Operationen. Aber das geht bei einem städtischen Krankenhaus nicht. Also werden die Krankenhäuser von der Politik zum Sparen gezwungen. Und weil Personal der größte Kostenfaktor ist, spart man da am meisten.

Aber ist nur die Berliner Politik Schuld - oder muss sich in München auch etwas ändern?
München könnte ganz viel machen. Noch mehr Wohnungen und Kindergärten für das Klinikpersonal bauen, zum Beispiel. Und dann, ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, vor etwa einem Jahr haben der Oberbürgermeister und die Geschäftsführung mehr Geld für Pflegekräfte - eine Pflegezulage - angekündigt. Das war das Schlimmste, was sie hätten machen können.

Warum das?
Als die Ankündigung vom OB kam, haben sich alle gefreut. Nur sollten eben nicht alle etwas bekommen. Im Endeffekt hätten nur Intensivpflegekräfte und ein Teil der Beschäftigten im OP die Zulage bekommen - also die Bereiche, die am meisten Geld einspielen - alle anderen wären leer ausgegangen. Jetzt sind wir seit einem Jahr am Verhandeln, weil wir finden: Das ist ein Schlag ins Gesicht einer jeden Pflegekraft, die auf den Normalstationen arbeitet. Wir wollen keine Spaltung der Pflege. Da sag ich: Lieber Bürgermeister, da tun Sie uns keinen Gefallen. Da wären noch mehr Pflegekräfte gegangen. Das Geld muss sinnvoller ausgegeben werden.

Zum Beispiel?
Für Digitalisierung. Wir sind im Jahr 2022, aber ich gehe mit einer Kladde von einem Medikamentenschrank zum anderen und schreibe händisch auf, was fehlt. Dann setze ich mich an den Computer und tippe 10-stellige Zahlen ein. Das alles dauert zwei, drei Stunden. Wir haben nicht mal einen Scanner. Den haben andere Krankenhäuser schon seit Jahrzehnten.

Woran scheitert es?
Wir haben bei der München Klinik die Politik, dass man an die nächsthöhere Stelle nur Positives melden darf. Sonst heißt es: Du hast deinen Bereich nicht im Griff. Ich habe den Verdacht, dass auch die Geschäftsführung an die Stadt immer nur Positives melden darf. Und das bremst. Denn, wenn man bei Fehlern keine Hilfe, sondern Ärger bekommt, wird viel vertuscht, anstatt verbessert.

Sparzwang bei München Klinik? 

Erst vor kurzem kam heraus, dass die München Klinik heuer ein Defizit von über 36 Millionen Euro macht. Merken Sie schon einen Sparzwang?
Die letzten sieben Jahre waren nur sparen, sparen, sparen.

Dieses hohe Defizit schockiert Sie also wenig?
Doch es schockiert mich schon, weil ich mich frage, wie viel Geld wohl in den Sand gesetzt wurde. Die Stadt sagt immer: Sie schenkt uns Geld - aber es ist ja kein Geschenk, das Herr Reiter der München Klinik macht. Das ist unser aller Steuergeld und da muss man schon schauen, dass es auch gut ausgegeben wird.

Wo verschwendet die München Klinik denn Gelder?
Ich glaube, dass zu viel Geld für Beraterfirmen ausgegeben wird. Alles, was auf dem Markt arbeitet, war schon mal bei uns. Und solche Berater sind teuer - vor allem sind sie fantasielos. Denn meist fällt denen nur ein, Personal zu streichen.

Der Personalmangel liegt also nicht daran, dass keiner mehr Lust auf einen Job hat?
Ich hab bei der München Klinik viel mitgemacht. Früher gehörten wir zur Stadt, dann wurden wir ein Eigenbetrieb und jetzt sind wir eine GmbH. Mit jeder Änderung wurde Personal abgebaut. Wir waren mal bei über 10.000 und inzwischen sind wir bei 8.000 Mitarbeitern. Die Reinigung und die Bettenaufbereitung machen jetzt Fremdfirmen. Da sind die Arbeitsbedingungen ganz furchtbar. Das Reinigungspersonal muss plötzlich viel größere Flächen in einer viel kürzeren Zeit putzen. Teilweise bleiben die Reinigungsleute ein, zwei Stunden länger und arbeiten umsonst. Auch die Qualität lässt zu wünschen übrig.

Gerade arbeitet die Geschäftsführung wieder an einem neuen Medizinkonzept.
Ich hab große Sorge, dass die wieder am Personal rasieren. Dabei müsste man jetzt so richtig ins Personal investieren. Mit einer guten, bedarfsgerechten Personalbemessung könnte man Werbung machen ohne Ende - da bräuchten wir die 8.000 Euro Werbeakquise gar nicht. Momentan bekommt nämlich jeder, der jemanden anwirbt, 4.000 Euro, und der, der anfängt auch.

Versandet aus Ihrer Sicht auch bei den Klinikbauprogrammen zu viel Geld im Nichts?
Ich bin keine Fachfrau, um das gut zu beurteilen. Aber ich glaube ja. Ursprünglich war zum Beispiel das Ziel, Bogenhausen im Bestand zu sanieren. Jetzt hat sich nach Jahren herausgestellt, dass das nicht funktioniert. Aus meiner Sicht war immer klar, dass man ein Krankenhaus nicht im laufenden Betrieb gut sanieren kann. In Bogenhausen wurde über Jahre nichts investiert. Deshalb muss jetzt vieles noch provisorisch hergerichtet werden und da wird natürlich auch viel Geld ausgegeben.

Die Linke glaubt: Die Geschäftsführung ist für all das verantwortlich. Hat sie recht?
An dem Hauptdesaster sind die Rahmenbedingungen schuld. Da könnte der beste Geschäftsführer kommen, aber er wäre finanziell in keiner viel besseren Position. Aber ich glaube auch, dass wir in der gesamten oberen Chefetage ein Führungsproblem haben. Wenn das Personal wegläuft und nicht mehr kann, hilft es nicht, den Druck noch mehr zu erhöhen.

Wie könnte es besser laufen?
Die Beschäftigten müssten viel mehr eingebunden werden - und zwar alle Hierarchieebenen und das, was die erarbeiten, muss dann auch umgesetzt werden und darf nicht in der Schublade verschwinden. Da gibt es so viel Kompetenz im Unternehmen, die nicht genutzt wird. Wir als Betriebsrat würden uns gern mehr einbringen. Früher hat man mehr miteinander geredet. Heute sieht man uns eher als Störfaktoren und Bremsklötze. Das ist schade. Der jetzige Geschäftsführer Axel Fischer redet mit uns gar nicht.

Ist er zu arrogant oder zu beschäftigt?
Beschäftigt sind wir alle.

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