Bergführer erzählt: Ich fand den Gletscher-Toten
Der Bergführer Andreas Steger (51) ist mit einer Gruppe auf dem Taschachferner unterwegs – als er eine Leiche entdeckt
MÜNCHEN/TIROL In der Ferne ragt etwas aus dem Eis. Der Bergführer Andreas Steger ist gerade mit einer Gruppe auf dem Taschachferner in den Ötztaler Alpen unterwegs, als sein Blick darauf fällt. „Das hat mich magisch angezogen”, erzählt er der AZ. Als er näher kommt, erkennt er zuerst ein Stück Plastiktüte, dann eine Alu-Rettungsdecke. Und dann: ein Ohr.
Mit seinem Stock schiebt er die Rettungsfolie ein Stück zur Seite. „Da habe ich eine Hand gesehen.” Ganz weiß ist sie.
Steger ist ein Profi – deshalb denkt er in diesem Moment zuerst an die Gruppe, die er führt. „So etwas kann schon an die Psyche gehen”, sagt er. „Für die Gäste am Seil kann das ein ganz dramatisches Erlebnis sein.” Er überlässt es den sieben Bergsteigern selbst, ob sie den Toten sehen wollen. Nur einer will.
Vor einer Woche war das alles. Inzwischen ist klar, wer der Tote gewesen ist.
Der Mann war ein Student aus München, geboren im Jahr 1973. Vor mehr als einem Jahrzehnt verschwand er plötzlich aus dem Leben seiner Familie. Im Jahr 2001 war das. Erst jetzt ist klar: Der Bergsteiger war damals in eine Gletscherspalte gestürzt. „Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass er erfroren ist”, sagt Walter Pupp, Leiter des Tiroler Landeskriminalamts.
Bei der Tour, die zu seiner letzten wurde, war der Münchner allein unterwegs. Erst jetzt, da der Gletscher über die Jahre hinweg abgeschmolzen ist, hat er die Leiche wieder freigegeben. In 3000 Metern Höhe lag sie.
Einsatzkräfte befreiten den Toten mit einem Bohrhammer aus seinem eisigen Grab. Einen halben Tag dauerte diese Arbeit. Ein Hubschrauber brachte die Leiche im Anschluss ins Tal. Gerichtsmedizinern gelang es, den Mann elf Jahre nach seinem Tod zu identifizieren – über einen Abdruck seiner Zähne.
Nach ihrer traurigen Entdeckung waren Andreas Steger und seine Bergsteiger-Gruppe in Gedanken bei den Angehörigen des Mannes. „Finden sie jetzt ihre Ruhe?”, fragte sich der 51-Jährige.
Nach und nach muss bei der Familie des Studenten die traurige Gewissheit gewachsen sein, dass ihm etwas zugestoßen ist. Im August 2001 war er als vermisst gemeldet worden. Im November darauf fand man sein Auto auf einem Parkplatz an der Pitztaler Gletscherbahn. Und im Jahr 2009 tauchte plötzlich sein Rucksack am Gletscher auf. Nur von ihm selbst fehlte jede Spur. Bis vergangene Woche. Bis Andreas Steger kam.
Es war übrigens nicht der erste Gletscher-Tote, den dieser zu Gesicht bekam. Der Bergführer, der beim DAV Summit Club arbeitet, war bis vor zwei Jahren bei der Alpin-Gendarmerie in Kitzbühel. Er hat selbst schon mitgeholfen, Tote aus dem Eis zu bergen. Außerdem ist Steger leitender Flugretter beim Notarzthubschrauber „Christophorus4”.
Seine Hochtouren-Gruppe blieb in den Bergen. Auch nach der grausigen Entdeckung. Der Kurs ging weiter. „Es ist keiner traumatisiert nach Hause gefahren”, sagt der Bergführer. Das habe er auch zu verhindern versucht.
Der aktuelle Fall erinnert an Manfred W. – den Rentner, der sechs Tage lang in einem Gletscher in den Stubaier Alpen gefangen war. Er kauerte in 15 Meter Tiefe in einer Spalte des Längentalferners, bis er gerettet wurde. Dieses Glück blieb dem Münchner, dessen Leiche nun entdeckt wurde, versagt.
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