Bei Statistik getrickst: Im Freistaat Bayern ist die Altersarmut am größten

München - Markus Söder lässt ja selten eine Gelegenheit aus, Bayern zu loben bzw. die Politik, die hier gemacht wird und für die er als Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender maßgeblich verantwortlich ist. Mal ist es die Familienpolitik, mal lobt er den Freistaat für seine pragmatische Wirtschaftspolitik. Man gebe Bayern "Halt und Hoffnung", man "manage Krisen" und eneuere zugleich das Land. Die unausweichliche Konsequenz: "In Bayern lebt es sich einfach besser", so ließ er das auf Instagram posten.
Lebt es sich in Bayern wirklich besser? Der Sozialverband VdK kam da jüngst zu einem anderen Ergebnis: Bayern hat mit 21,8 Prozent die höchste Altersarmutsgefährdungsquote. Nach der Definition des Statistischen Bundesamts heißt das: Mehr als jeder fünfte Senior im Freistaat hat weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung, gilt also als arm oder armutsgefährdet. Frauen über 65 sind sogar noch gefährdeter (24,5). Die Zahlen hat der Verband nicht selbst ermittelt, sondern von den Statistikämtern von Bund und Ländern übernommen.
Tausende Seniorinnen in München und Bayern von Altersarmut bedroht
Dass generell mehr Seniorinnen als Senioren von Armut betroffen sind, das kann etwa Christina Meyer vom gemeinnützigen Münchner Verein "Lichtblick" bestätigen. Der Verein unterstützt nach eigenen Angaben deutschlandweit etwa 27.000 alte Menschen, deren Rente nicht zum Leben reicht, in München gut 9.000. "Rund 80 Prozent davon sind Frauen, Altersarmut ist tatsächlich primär ein weibliches Problem", sagt Meyer im Gespräch mit der AZ.
Und noch einmal ein besonderes Problem bayerischer Frauen? Denn die bayerischen Zahlen sind die höchsten aller Bundesländer. Und seit 2007 steigen sie stark an, wie der VdK mitteilt. "Dafür stelle ich der Staatsregierung ein echtes Armutszeugnis aus", sagt die VdK-Vorsitzende Verena Bentele bei der Präsentation des Berichts. Woran liegt es, dass ältere Menschen in Bayern häufiger arm sind als anderswo? Und wie fügt sich das ein in Söders Bayernbild?

Der VdK wirft der bayerischen Staatsregierung und damit Söder vor: Es fügt sich ein, weil man sich die Situation ein wenig schönrechnet. "Leider nutzt die bayerische Staatsregierung den Bundesmedian als Grundlage zur Errechnung der bayerische Armutsquoten", schreibt Bettina Schubarth vom VdK auf Anfrage der AZ. "Da kommen schönere Zahlen raus."
Altersarmut: Freistaat Bayern rechnet sich "schönere Zahlen"
Und leider führe das immer wieder zu Verwirrungen in der Armutsberichterstattung. Das Medianeinkommen im Bund liegt etwas niedriger als das in Bayern – so fallen dann einige Menschen aus der Statistik, obwohl im Freistaat oder gerade in München die Lebenshaltungskosten höher sind und unter dem Strich sogar weniger Geld zur Verfügung steht.
Der Sozialverband dagegen verwendet den Landesmedian, "um damit ein realistisches Bild von den tatsächlichen Verhältnissen" zu zeichnen, wie Schubarth schreibt. Dies entspreche auch den wissenschaftlichen Gepflogenheiten.
Der Rechentrick gestattet zwar, die Situation in ein etwas anderes Licht zu rücken. Aber er erklärt noch nicht, warum es in Bayern wahrscheinlicher ist, im Alter arm zu werden. Margit Berndl, die Vorständin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands in Bayern, hat dazu einige Ideen. "In Bayern waren viele Frauen in der Landwirtschaft tätig und haben nicht in die Versorgungskassen eingezahlt", sagt sie auf Anfrage der AZ.
Auch seien Frauen seltener erwerbstätig gewesen, weil sie die unbezahlte Sorgearbeit übernommen hatten, führt Christina Meyer von "Lichtblick" aus. "Die haben sich zum Beispiel in der Familie um Kindeserziehung und den Haushalt gekümmert oder haben Angehörige gepflegt", sagt sie. "Die Frauen haben die ganze Zeit gearbeitet, aber eventuell weniger Lohnarbeit und vermehrt in Teilzeit." Margit Berndl vom Paritätischen ergänzt: "Hier wirken tradierte Rollenbilder nach."
Im Ergebnis führt das alles zu einer niedrigeren Rente im Alter. Und Besserung ist laut Berndl nicht in Sicht: "Bayern ist trauriger Spitzenreiter bei der Altersarmut. Und sie wird weiter steigen, weil immer mehr Menschen mit brüchigen Erwerbsbiografien in Rente gehen." Um die Armut im Alter zu verhindern, brauche es: eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und eine Mindestrente. Denn: "Die Rente reicht oft nicht, um die eigene Pflege zu finanzieren."
Das klingt logisch – gegen Armut hilft: mehr Geld, also im Alter zum Beispiel eine höhere Rente. Ein anderer Hebel für höhere Renten wäre, das generelle Lohnniveau zu steigern, denn auch das würde die Renten steigen lassen. Eine Strategie, die scheinbar auch Markus Söder vorschwebt: "Arbeit und Leistung müssen sich lohnen", ließ er jüngst auf seinem Instagram-Profil verlauten.

Allerdings nur scheinbar. Denn Söder geht es nicht um die Löhne, sein Post richtet sich gegen die von der Ampelregierung im Bund beschlossene Erhöhung des Bürgergelds. "Wer arbeiten kann, soll auch arbeiten", schreibt Söder. Die Ampel setze völlig falsche Anreize.
Mindestlohn und Tarifbindung gegen Armut im Alter
Das klammert allerdings zweierlei aus: Zum einen, dass etwa 800.000 Menschen in Deutschland Bürgergeld beziehen und gleichzeitig arbeiten. Zum anderen, dass Beschäftigte, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten, prinzipiell mehr Geld zur Verfügung haben als die Bezieher von Bürgergeld. Das hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ausgerechnet. "Es schadet uns allen, wenn Bürgergeldempfänger gegen Mindestlohnbezieher ausgespielt werden", sagte Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin am WSI. Statt einer solchen Debatte brauche es einen höheren Mindestlohn und mehr Tarifbindung. "Denn die ist der beste Schutz gegen Armutslöhne."
Doch die CSU hat sich auf das Bürgergeld eingeschossen. Die bayerische Arbeitsministerin Ulrike Scharf hat angekündigt, sich weiter im Bundesrat für eine grundlegende Reform einzusetzen. "Wir brauchen eine Reform dieses Bürgergelds", sagte Scharf bei einer Pressekonferenz. "Hart arbeitende Menschen sind entsetzt, fühlen sich als die Dummen, diejenigen, die in der Früh aufstehen, arbeiten gehen und Steuern zahlen."

Das soll heißen: Das Bürgergeld ist zu hoch – dabei ist das Narrativ vom faulenzenden Bürgergeldbezieher, der mehr hat als der rechtschaffene Arbeiter, von verschiedenen Experten widerlegt worden. "Wer Bürgergeld bezieht, hat auf jeden Fall weniger als jemand, der zum Mindestlohn arbeitet", sagt auch Verena Bentele vom VdK auf AZ-Anfrage.
Und selbst wenn das Narrativ stimmte – zur Bekämpfung der Altersarmut eignet sich eine Absenkung des Bürgergelds nicht. Einerseits würde es die Aufstocker ärmer machen. Und andererseits würde eine Senkung nichts am generellen Lohnniveau ändern – und damit auch nicht an den Renten. Und die fallen heute schon zum Teil sehr mäßig aus. "Auch der jetzige Mindestlohn von 12 Euro oder bald 12 Euro 41 ab Januar reicht nicht, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erwirtschaften", sagt Bentele. "Wer wirklich etwas für den guten und starken Sozialstaat tun will, muss dafür sorgen, dass die Menschen für ihre Arbeit gut bezahlt werden."
Viele Hebel beim Thema Altersarmut
Beim Verein "Lichtblick" hält man sich mit politischen Forderungen eher zurück, im Fokus solle ja die unbürokratische und schnelle Hilfe stehen, sagt Christina Meyer. Trotzdem: Frauen und Männer sollten gleich entlohnt werden, sagt sie. Auch müsste die Sorgearbeit einen höheren Stellenwert bekommen. Und eine Anhebung des Mindestlohns hält sie ebenfalls für einen wichtigen Punkt. Meyer rechnet vor: Wer 40 Jahre lang 3000 Euro brutto verdient, erhält derzeit eine Rente von 1080 Euro. "Hier müsste man ansetzen."