Interview

Bahn-Gewerkschafter droht in der AZ: "Nächster Streik kommt noch vor Weihnachten"

"Die Deutsche Bahn tut alles dafür, den Tarifkonflikt weiter zu verschärfen", kritisiert die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) die Arbeitgeberseite. Die AZ hat bei Bayerns GDL-Bezirkschef Uwe Böhm nachgehakt.
von  Guido Verstegen
Im laufenden Tarifkonflikt mit der Deutschen Bahn streikte die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) zuletzt am 15./16. November und rief ihre Mitglieder kurz danach zur Urabstimmung über unbefristete Streiks auf.
Im laufenden Tarifkonflikt mit der Deutschen Bahn streikte die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) zuletzt am 15./16. November und rief ihre Mitglieder kurz danach zur Urabstimmung über unbefristete Streiks auf. © imago/Sven Simon

München - Bei den Gesprächen mit den Vertretern der Deutschen Bahn (DB) sitzt Uwe Böhm für die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) aktuell nicht am Tisch, macht aber "das Spielchen jetzt schon zum vierten Mal" mit. Angesichts parallel laufender Verhandlungen mit anderen Arbeitgebern sagt Bayerns GDL-Bezirksvorstand: "Es scheint, als wäre es seit 15 Jahren immer nur die DB AG, die sich so ständig mit der eigenen Belegschaft anlegt."

Gewerkschafter Uwe Böhm über Personalnöte: Bahn macht Rekrutierungsbüro in Ägypten auf

Am Freitag hatte GDL-Chef Claus Weselsky die Verhandlungen für gescheitert erklärt, am Montag wies die GDL in einem Statement darauf hin, dass sie so lange nicht weiterverhandeln wolle, bis sich die Bahn auf ihre Forderungen einlasse. "Angesichts dessen sind weitere Verhandlungen ohne Sinn und Zweck. Die GDL wird es auch in dieser Runde nicht zulassen, dass unsere berechtigten Forderungen ignoriert werden. Wie in der Vergangenheit werden wir auch in der Zukunft dafür kämpfen. Die Arbeitgeberseite scheint das nicht zu verstehen. Dann müssen wir es ihnen eben wieder einmal beweisen", heißt es auf der Webseite der Gewerkschaft.

Uwe Böhm (53) ist seit 2005 Vorsitzender des in München ansässigen GDL-Bezirks Bayern. 
Uwe Böhm (53) ist seit 2005 Vorsitzender des in München ansässigen GDL-Bezirks Bayern.  © imago/Zuma Wire

Herr Böhm, es ist der Knackpunkt im laufenden Tarifkonflikt: Warum ist die Arbeitszeitverkürzung von 38 auf 35 Wochenstunden für Schichtarbeiter bei vollem Lohnausgleich so wichtig für die GDL?
UWE BÖHM: Im Schichtdienst will ja kaum noch jemand anfangen, und wir haben große Personalprobleme. Das wird immer mehr und ist inzwischen so heftig, dass die Deutsche Bahn ein Rekrutierungsbüro in Ägypten aufmacht, um Lokführer zu kriegen. Und die IG Metall (die Industriegewerkschaft Metall ist die größte deutsche Einzelgewerkschaft, d. Red.) beispielsweise hat heute schon viel höhere Löhne, arbeitet nicht in dieser Art von Schichtdienst wie wir und will in ihrer Tarifrunde jetzt von der 35-Stunden-Woche zur 32-Stunden-Woche runter. Das merken die Eisenbahnverkehrsunternehmen auch deutlich in den Werkstätten mit ihrem fehlenden Personal. Hier konkurriert ein Dreischichtsystem mit einem Zwei- und Einschichtsystem in Werkstätten außerhalb der Bahn.

GDL-Bezirkschef Uwe Böhm: "Die Pausenzeiten sind minutiös ausgerechnet" 

Hinzu kommt, dass sich die Arbeitszeiten grundsätzlich unterscheiden...
Richtig. Ein Kollege hat jetzt wie folgt Dienst: Donnerstag von 4.57 Uhr bis 16.56 Uhr, Freitag von 7.02 Uhr bis 14.59 Uhr,  Samstag 2.17 Uhr bis 13.53 Uhr, Sonntag 5.46 Uhr bis 15.42 Uhr, Montag 4.44 Uhr bis 16.36 Uhr. Die Pausenzeiten in einer Schicht sind für das ganze Zugpersonal minutiös und nach Fußwegen ausgerechnet. Für 66 Meter Fußweg wird jeweils eine Minute berechnet. Da musst du dann schon überlegen, ob du's noch zum Bäcker oder zur Toilette schaffst. Kommt der Zug zu spät, ist die Pause oft kürzer oder muss irgendwie verschoben werden.

Wie sieht's denn unter diesen Umständen mit einem pünktlichen Feierabend aus?
Der ist dann auch in Gefahr. Zwischen zwei Schichten liegen manchmal nur neun Stunden. Das reicht gerade so, um nach Hause zu fahren, etwas zu essen, zu duschen, zu schlafen und den Kindern mal kurz über den Kopf zu streicheln. Manchmal arbeiten wir so über 50 Stunden am Stück. Klar – wir haben dann auch mal etwas länger frei, aber das nutzen dann die Disponenten für einen Anruf zu Hause mit der Frage, ob man nicht doch nochmal eine Sonderschicht fahren könne. So kommen zum Jahresende schnell mal 100 Überstunden zusammen. Und wer Weihnachten Urlaub will, muss an Silvester arbeiten oder umgekehrt. 

"Die Anforderungen an die Produktivität nehmen immer weiter zu"

Sie haben selbst 16 Jahre lang als Lokführer gearbeitet. Was sind weitere Herausforderungen, was macht den Beruf aus?
Natürlich hat der Beruf auch schöne Seiten. Man sitzt allein da vorne und erlebt die Landschaft und den Wechsel der Jahreszeiten aus einer anderen Perspektive. Und du bist auch noch dein eigener Herr, wenn du mal aus dem Bahnhof raus bist. Da ist man ja dann Chef auf seinem Zug.

Mit zunehmender Erfahrung kann man dann sicher auch besser mit der großen Verantwortung umgehen und die Arbeit "genießen"... 
Aber die Anforderungen an die Produktivität nehmen immer weiter zu. Das Ganze wird von regelmäßigen Gesundheits-Check-ups und Leistungsnachweisen zur vorhandenen Qualifikation begleitet. Kein Spaß sind die störanfällige Technik, die Verspätungen und die enorm verschlechterte Sicherheitslage in den Zügen und während des Dienstes. Die meisten Lokführer gehen heute mit Abschlägen und unter 64 Jahren in Rente. 

Uwe Böhm über wackelnde Steckdosen und geschlossene Bordbistros

Mitunter fallen jetzt schon Züge aus, weil es an Personal fehlt. Also ohne Streik.
Wie zum Beispiel bei der Länderbahn in Schwandorf: Da sind in den Sommerferien Züge ausgefallen, weil nicht genügend Personal da war. Ich bin bei vielen Betriebsversammlungen dabei, mitunter kriegt keiner mit, dass da in einer Gemeinde mal ein paar Takte rausfliegen – das spüren nur die regelmäßig fahrenden Pendler. An manchen Tagen können wir keinen Unterschied zwischen einem Streik-Tag und einem ganz normalen Eisenbahn-Tag erkennen. Die Pünktlichkeit liegt beim Fernverkehr bei unter 65 Prozent, die Steckdosen wackeln, und das Bordbistro ist immer öfter geschlossen, sei es wegen technischer Störungen oder wegen zu wenig Personal. Das macht Stress im Zug, und wir leiden unter solchen Arbeitsbedingungen.

"Die GDL hat noch nie über Weihnachten gestreikt und wird es auch dieses Jahr nicht tun", betont Claus Weselsky immer wieder. Aber: Wann fängt für den GDL-Chef die Weihnachtszeit an?
"Die GDL hat noch nie über Weihnachten gestreikt und wird es auch dieses Jahr nicht tun", betont Claus Weselsky immer wieder. Aber: Wann fängt für den GDL-Chef die Weihnachtszeit an? © Christoph Soeder/dpa

Die Urabstimmung in der GDL über unbefristete Streiks ist angelaufen. Wie ist die Stimmung in Bayern respektive in München?
Bis zum 19. Dezember liegt das Ergebnis der Urabstimmung voraussichtlich vor. Wir rechnen mit einer großen Beteiligung, die Leute schieben einfach einen großen Frust, und wir erwarten eine Zustimmung von rund 90 Prozent. Dann gehen wir in den sogenannten Weihnachtsfrieden, das heißt, wir streiken zu Weihnachten und auch an den Feiertagen nicht, das hat Claus Weselsky immer wieder betont. Ab Januar nächsten Jahres ist dann wieder alles möglich. Ob das dann unbefristet ist, steht noch nicht fest, das muss ja nicht sein. Es können zum Beispiel auch mehrere längere Streiks sein.

"Die Deutsche Bahn sperrt sich beim Thema Arbeitszeit komplett"

Bleibt offen, ab wann nach Ihrer Definition die Weihnachtszeit anfängt und aufhört. Wann kommt denn der nächste Warnstreik?
Noch vor Weihnachten. Aber wann genau, weiß ich nicht. 

Wie erleben Sie die Gespräche der Tarifparteien bisher? Waren Sie vom schnellen Abbruch der Verhandlungen überrascht?
Ich bin da persönlich nicht dabei, mache aber das Spielchen jetzt schon zum vierten Mal mit. Überrascht war ich tatsächlich nicht, schließlich sperrt sich die Deutsche Bahn beim Thema Arbeitszeit komplett. Zum Streik gehören immer zwei, und wir verhandeln ja auch mit anderen Arbeitgebern. Die Länderbahn zum Beispiel gehört zu Netinara, und der Konzern hat einen ersten Vorschlag zur Arbeitszeitreduzierung gemacht. Am Montag kam das Angebot vom Transdev-Konzern dazu, über die Absenkung der Arbeitszeit zu verhandeln. Auch mit Go-Ahead in Augsburg geht es weiter, ganz ohne Streik. Es scheint, als wäre es seit 15 Jahren immer nur die DB AG, die sich so ständig mit der eigenen Belegschaft anlegt.

Uwe Böhm: "Die Bahn hat teilweise noch eine museale Stellwerkstechnik"

Was verdient denn eigentlich ein Lokführer im Schnitt?
Um die 3.170 Euro brutto im Monat, ohne Zulagen. Wir sind aber auch seit 32 Monaten ohne neuen Tarifabschluss (März 2021 bis Oktober 2023, d. Red.) und haben wie alle anderen Arbeitnehmer eine heftige Inflation hinter uns. Ich möchte keine Neiddebatte anstoßen, weise aber darauf hin, dass unsere Bahnvorstände nicht streiken müssen. Sie nehmen sich mit der Zustimmung von Aufsichtsräten immer mehr. Eine Möglichkeit, die ein Lokführer oder Zugbegleiter nicht hat. Die Hälfte des Umsatzes generiert die DB AG im Ausland, zum Teil mit völlig eisenbahnfremden Geschäften. In Deutschland hat sie teilweise noch museale Stellwerkstechnik und ein marodes, viel zu kleines Schienennetz. Und trotzdem verdoppelte sich der DB-Vorstandsvorsitzende Richard Lutz sein Gehalt von 2021 auf 2022 inklusive der Bonuszahlungen auf 2,24 Millionen Euro – das sind rund 6.700 Euro am Tag.

Solche Argumente werden im Arbeitskampf gerne mal ins Feld geführt...
Streik ist immer eine schlimme Sache, für Dritte und auch für die eigenen Mitarbeiter. Wenn Kindergärten bestreikt werden oder Müllabfuhr, Flughafenpersonal oder eben Eisenbahner ihre Arbeit niederlegen, sind viele Menschen betroffen. Meine Kolleginnen und Kollegen verlieren im Streik ein Teil ihres Einkommens, sie tun das für ihre Familien. Eisenbahner im Schichtdienst zu sein, heißt auch ganz oft nicht mitzuerleben, wie die eigenen Kinder aufwachsen, Geburtstage oder Weihnachten zu verpassen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass sich hier etwas verbessern muss, damit die Züge dauerhaft fahren und nicht nur dann stehen bleiben, wenn wir streiken müssen.


Uwe Böhm ließ sich zwischen 1987 und 1989 zum Schienenfahrzeugschlosser und Lokomotivführer bei der Deutschen Reichsbahn ausbilden. Der heute 53-Jährige ist seit 1990 GDL-Mitglied und seit 2005 Vorsitzender des GDL-Bezirks Bayern. 

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