Babylon in Schwabylon

Eine einzige Party: Die „heiteren Spiele“ ziehen Menschen aus aller Welt an, die ganze Stadt singt und swingt
Karl Stankiewitz |
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München ist der Treffpunkt der Jugend der Welt. Fröhliche Hippies im Englischen Garten und Flaneure am Marienplatz.
München ist der Treffpunkt der Jugend der Welt. Fröhliche Hippies im Englischen Garten und Flaneure am Marienplatz.

 

Eine einzige Party: Die „heiteren Spiele“ ziehen Menschen aus aller Welt an, die ganze Stadt singt und swingt

München - Was sind eigentlich „heitere Spiele“? Was der Welt für München ’72 mit diesem Slogan versprochen wurde, war gar nicht so leicht zu verwirklichen. Dass die Eröffnungsfeier nicht gerade, wie 1936 in Berlin, als eine Art internationale Militärparade erscheinen sollte, war von vornherein klar.Wie aber sollte die Heiterkeit auf die ganze Stadt übertragen werden? Das Kunststück gelang. Es war viel Spaß in der Stadt und draußen im Park – jedenfalls bis zum „Schwarzen September“.

Musikmanager Stefan von Baranski hat von den Olympia- Verantwortlichen einen schweren Job bekommen: „Ich habe die schöne Aufgabe, 5000 Menschen wochenlang für 450 000 Mark zu unterhalten.“ Weil man aber für so wenig Geld kein Spitzenprogramm bieten kann, ist Baranski zum Bettler geworden. In allen Erdteilen bittet er Künstler, DJs und Show-Leute, ihr Scherflein zur olympischen Idee beizutragen. Tatsächlich verzichten viele auf Teile ihrer Gage, und zahlreiche Rundfunkstationen sagen ihre Orchester oder ganze Programme kostenlos zu. Was vom 1. August an in dem für 14 Millionen Mark erbauten Vergnügungszentrum des Olympischen Dorfes für die Athleten produziert wird, soll also auch Millionen von Rundfunkhörern unterhalten.

Das Programm ist Anfang März fast perfekt. Es beginnt mit einer internationalen Zauberschau des Studios für Magische Kunst imTheater des Dorfes, das 450 Plätze hat. Die Folklore reicht von der „Kuhglockenshow“ und dem Jodler- Duo aus dem Chiemgau bis zum Volkstanz der Spanier. Mit polnischen Popkünstlern gastiert die neue, 24 Mann starke Big Band der Bundeswehr. Im poppig aufgemachten „Bavaria Club“ dagegen, wo sich Sportler und Sportlerinnen auf drei Tanzflächen austoben können, will der Manager vorwiegend deutschsprachige Kapellen und Sänger einsetzen, zum Beispiel die Münchner „Blue Birds“, Jochen Brauer, Ambros Seelos, die Hazy Osterwald Jet Sets, die Solisten Marianne Wendt, Paola, Tonia und Roberto Blanco.

Der Rundfunk nimmt täglich eine Sendung namens „Olympia-Stammtisch“ mit Sportlern, Journalisten und Künstlern in dem Club auf, der 600 Personen fasst und ab 16 Uhr als Diskothek betrieben wird. Allerdings gibt es dort keinen Alkohol, nur Limonade, Milch, und original zubereitete Tees aus Sri Lanka und Indien werden ausgeschenkt. Noch seriöser wird es in der benachbarten „Klassik-Diskothek“ zugehen, wo die deutschen Schallplattenfirmen täglich zwei bis drei Stunden Konzerte veranstalten und Musikexperten in verschiedenen Sprachen dazu Erklärungen abgeben werden. Im Dorfkino mit 250 Plätzen soll täglich ein internationales Filmfestival abgespult werden.

Eine Umfrage unter Sportlern stellt deren Wünsche fest: Unterhaltungsfilme, Western, Krimis und Action- Thriller. Schließlich können sich die Aktiven noch in einer Kunstund Fotoausstellung, in zahlreichen Tischtennisturnieren, in zwei Sälen mit Tischfußball und anderen Sportautomaten sowie in fünf Fernsehräumen unterhalten und entspannen. Im Freien gibt es Schachspiele mit 80 Zentimeter hohen Figuren und Minigolf. 

Jeden Tag steht Benno Stiffinger (72) mit knielanger Lederhose, bestickter Trachtenjacke, Wadlstrümpfen, Bergstiefeln und weißem Rauschebart auf dem Marienplatz und lässt sich pausenlos ablichten. Olympiabesucher mit Turban, Kaftan, Kimono oder in schlichtem deutschen Urlauberzivil benützen den Bilderbuchbayern, der für diesen Service nicht einmal die Hand aufhält, mindestens so gern und häufig als Fotostaffage wie im Hintergrund die neugotische Fassade des Rathauses, von dessen Turm jetzt ausnahmsweise zweimal täglich das Glockenspiel erklingt. Die ganze Stadt swingt und klingt. Folkloregruppen aus aller Welt ziehen durch die neue Fußgängerzone, die einstige Hauptverkehrsader.

Hier tanzen schwarze Mädchen von der Karibik, dort schmettern die mexikanischen Mariacchis. Auch die Alphornbläser aus dem Allgäu, die bei der Eröffnungsfeier nicht blasen durften, holen das jetzt auf dem Marienplatz mit vollen Lungen nach. Ein Sprachengewirr, ein Rassengemisch, ein Getriebe und Geschiebe, eine große Gaudi. Münchens City wird Manhattan und Schwabylon wird Babylon. Weltstadtatmosphäre und Wiesnstimmung zugleich: Viele Fremde haben sich schon bayerisch eingekleidet – und im Hofbräuhaus werden täglich etwa 500 Maßkrüge geklaut. Aber der Umsatz ist auch in diesen weltberühmten Trinkhallen nicht sonderlich gut. Das alte, das richtige Schwabing boomt im Olympia-Monat August.

Schon mittags ist in den Boulevardcafés kein Stuhl mehr frei. Im Beatschuppen „Big Apple“ bricht in der Hitze des Betriebs ein Brand aus. Berliner Feuerwehr, zur Zeit als Verstärkung an der Isar, löscht. Aushilfspolizisten aus anderen Bundesländern fragen Fremde nach Münchner Straßen. Ein Hamburger irrt stundenlang herum, weil er sein Auto nicht wiederfindet. Die Polizei greift einen 12-jährigen Griechen auf, der völlig verwahrlost ist. Er hat seinen Eltern in Hamm 300 Mark gestohlen, um Olympia aus der Nähe zu sehen, ist in München aber selbst einem Taschendieb zum Opfer gefallen. Der Englische Garten ist fest in der Hand fröhlicher Hippies und Jesus-People. Jeden Tag vertreiben Polizeistreifen bis zu 200 Olympia-Gammler. Trotzdem füllen sich die Wiesen jeden Abend wieder. Am Monopteros ist auch die letzte Steinstufe besetzt. John Zehnder (20), amerikanischer Student, hat ein Schild aufgestellt: „Ich brauche einen Platz für meinen Schlafsack, kannst du michhelfen?“ Münchner laden ihn ein. Olympische Weltstadt mit Herz.

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