Baby mit Gendefekt: Münchnerin braucht jetzt einen Millionenbetrag
München - Seit 110 Tagen lässt Melisa Kaya ihr Handy nicht aus den Augen. Sie recherchiert, postet auf Instagram, beantwortet Mails, schreibt Anfragen, stimmt sich ab. Sie kann es nicht mehr sehen. "Es ist morgens das Erste und abends das Letzte, was ich mache", sagt die 42-Jährige. An diesem Montagmorgen steht sie im quietsch-orangenen, leeren Foyer des Schauspielhauses.
Melisa Kaya arbeitet bei den Münchner Kammerspielen, ist die künstlerische Referentin von Barbara Mundel, der Intendantin. Gerade ist viel zu tun. Sie macht eine Weiterbildung, gleichzeitig muss die neue Spielzeit im Herbst vorbereitet werden. Aber schwerer als jetzt fiel es ihr selten, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Arzneimittel kostet einen Millionenbetrag
Warum? Melisa Kaya hat großen Kummer. Vor vier Monaten kam das erste Kind ihrer kleinen Schwester Selin zur Welt. In einem Krankenhaus im türkischen Çorlu. Scheinbar gesund. Doch der Bluttest zeigte einen lebensgefährlichen Gendefekt. Der kleine Bub hat spinale Muskelatrophie, kurz SMA. Seine einzige Chance sei eine Gentherapie in einem deutschen Krankenhaus.
Der Haken ist, das Arzneimittel kostet einen Millionenbetrag. Seit dem Tag der Diagnose hat sich das Leben der ganzen Familie komplett verändert. "Für mich ist da eine Welt zusammengebrochen", sagt Kaya. Ihre Schwester, ihr Mann mit dem Baby müssten sich seitdem zuhause isolieren, damit der Kleine nicht durch eine Infektion zusätzlich gefährdet ist. Auch der Physiotherapeut kommt mit Mundschutz.
Der Gendefekt kann Atem- und Schluckbeschwerden verursachen
In Deutschland werden jährlich 80 bis 120 Kinder mit dem seltenen Gendefekt geboren. Kinder, die meist schon im Baby- und Kleinkindalter an Muskelschwund und in der Folge auch an Atem- und Schluckbeschwerden leiden. Ohne Behandlung überleben viele das zweite Lebensjahr nicht. Aber seit vier Jahren ist ein neues Arzneimittel auf dem Markt. Eine einzige Injektion reicht. Zolgensma heißt das Mittel. Die Beobachtung der behandelnden Ärzte und Ärztinnen zeigt, dass einige der Kinder, die Zolgensma sehr früh nach der Geburt bekamen, sich nachher fast ohne Beeinträchtigungen entwickeln konnten.
Es ist die große Hoffnung von Melisa Kaya und ihrer kleinen Schwester. Doch anders als in den USA und in Deutschland ist Zolgensma in der Türkei nicht zugelassen. Warum? Das wisse Melisa Kaya auch nicht. Die türkische Staatsregierung gebe als Begründung an, dass "mögliche Langzeitfolgen nicht ausreichend getestet sind. Deshalb werden die Babys in der Türkei einfach ihrem Schicksal überlassen."
Wenn Melisa Kaya die Fotos und Videos auf ihrem Handy abspielt, liegt da ein waches, strampelndes Baby, das weder dünn noch schwach aussieht. "Bisher hat er keine Symptome, aber sie könnten jederzeit auftreten". Die Behandlung bei SMA ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Babys brauchen die Therapie so früh wie möglich, am besten bevor die ersten Symptomen eintreten. Also recherchiert Melisa Kaya Ende Februar pausenlos. Sie telefoniert mit Kliniken. Die Münchner Kliniken nehmen keine ausländischen Kinder mit SMA zur Behandlung. Bis sie schließlich in Berlin eine Klinik findet, die die Therapie durchführen würde. Unter der Voraussetzung, dass die Familie die Kosten selbst tragen kann. Doch die Kosten, das ist mehr als ein ganzes Einfamilienhaus: 1,7 Millionen Euro. Es ist eines der teuersten zugelassenen Medikamente weltweit. Ausgerechnet.
Auf Instagram sammeln die Schwestern Spenden
Aber an Aufgeben kann Melisa Kaya nicht denken. Doch damit ist klar, die Familie braucht fremde Hilfe, viel davon. Sie eröffnen ein Spendenkonto und starten eine Kampagne. Das Baby bekommt einen eigenen Instagram-Account. Auf dem Kanal senden die beiden Schwestern jeden Abend drei bis vier Stunden live. Sie reden über die Krankheit. Darüber, dass Kuzeys Leben von der Therapie in Deutschland abhängt. Über die Chancen des teuren Mittels. Eine "überwältigende Geste" kommt vom Arbeitgeber ihrer jüngeren Schwester, sagt Melisa Kaya. Sie arbeitet als Umweltingenieurin in einem französischen Unternehmen mit Dependance in der Türkei. Nach dem Spendenaufruf für den kleinen Jungen überweist das Unternehmen 300.000 Euro. Aber auch viele Privatpersonen, Schüler, Freunde der Familie folgen dem Spendenaufruf.
In Deutschland nutzt Melisa Kaya ihr großes Netzwerk aus Künstlerinnen, Musikern und Veranstaltern und organisiert Mitte April ein Benefizkonzert für Kuzey in der Halle 6. Musiker spielen, Performancekünstler treten auf und mehrere DJs legen nachher noch auf. Allein an diesem Abend seien trotz der Hallenmiete 3000 Euro zusammengekommen. "Mich berührt das so sehr, wie fremde Menschen uns stark unterstützen", sagt Melisa Kaya. "Ich kann gar keine Worte dafür finden, wie dankbar ich bin."
Seit Februar habe sie sich oft überfordert gefühlt. "Ich bin ja eine Privatperson, ich habe zuerst überhaupt nicht gewusst, wie das alles funktioniert". So eine Kampagne in Social Media, Spendenkonto, Konzerte anmelden. Auch der zeitliche Aufwand sei mehr, als eine Person schaffen kann. "Im Moment funktioniere ich hauptsächlich." Aber jetzt einbrechen, das wäre keine Option. Nicht, wo sie am vergangenen Wochenende 68 Prozent erreicht haben, sprich ein Drittel der Gesamtsumme von 1,7 Millionen.
Das habe ihre Motivation wieder hochgezogen. Sobald sie das Geld hätten, könnte die Berliner Klinik den Jungen innerhalb weniger Tagen aufnehmen. "Ich wünsch ihm einfach so sehr, dass er die Chance bekommt, sich normal entwickeln zu können." Ihnen helfe jeder Euro, sagt Melisa Kaya. "Wenn heute beispielsweise 27.200 Leute 20 Euro spenden würden, dann hätten wir die Summe heute schon zusammen."
Spendenmöglichkeit über PayPal mit der Mailadresse kuzeyalazumit.sma@gmail.com oder über das deutsche Spendenkonto IBAN DE82 1001 1001 2338 1364 87
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