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AZ Rückblick: 1995 - Revolution gegen eine frühere Sperrstunde

12. Mai 1995: Bei der "Biergartenrevolution" demonstrieren rund 20.000 Münchner gegen eine frühere Sperrstunde.
von  Dominik Petzold
Für die Bier-Kultur: Gut 20 000 Demonstranten versammeln sich am 12. Mai 1995 auf dem Marienplatz.
Für die Bier-Kultur: Gut 20 000 Demonstranten versammeln sich am 12. Mai 1995 auf dem Marienplatz. © Ursula Düren (dpa)

München ist Weltstadt, Kunststadt, Musikstadt und, ganz klar: Bierstadt. Und zwar auch abseits der Wiesn, wo gerade 6.5 Millionen Maß ausgeschenkt wurden. In den Neunzigern war München sogar noch mehr Bierstadt als heute.  Da tranken Geschäftsleute beim Mittagessen, das damals noch nicht Business-Lunch hieß, oft Helles – möge es zu guten Abschlüssen für alle Seiten geführt haben. Und in Zeitungshäusern wie der AZ gab es in den Getränkeautomaten noch Fächer für Bier – selbstredend ist das heute undenkbar. Die Fächer sollen damals sogar manchmal leer gewesen sein.

Kampf um die nächtliche Gemütlichkeit: Die Neunzigerjahre in Biergärten

Und so kam es in den Neunzigern bei den Münchnern gar nicht gut an, als ausgerechnet die Kultur der Biergärten in Gefahr geriet. Schließlich liebt diese Orte so gut wie jeder – die Bierliebhaber, aber auch alle, die alkoholfreie Getränke bevorzugen. Denn wo ist’s in lauen Nächten gemütlicher als unter Münchner Kastanienbäumen? Ein paar Großhesseloher aber hatten eine andere Perspektive auf den dortigen Biergarten, die Waldwirtschaft. Sie klagten seit den frühen Neunzigern wegen des Lärms, der in Sommernächten von dort ausging. Vor allem der Geräuschpegel abfahrender Autos zu vorgerückter Stunde störte sie. Sie zogen vor Gericht und verlangten eine Schließung um 21.30 Uhr.

In Biergärten wie diesem am Wiener Platz können die Gäste traditionell bis 23 Uhr sitzen. In den Neunzigern aber war die nächtliche Gemütlichkeit in Gefahr.
In Biergärten wie diesem am Wiener Platz können die Gäste traditionell bis 23 Uhr sitzen. In den Neunzigern aber war die nächtliche Gemütlichkeit in Gefahr. © Peter Kneffel (dpa)

Der Kampf für die Biergartentradition: Der Verein und seine Anfänge

Da gründeten begeisterte Gäste der Waldwirtschaft und sonstiger Biergärten 1991 den Verein zur Erhaltung der Biergartentradition. "Wir haben gesagt: Das kann doch nicht sein!", erinnert sich Ursula Seeböck-Forster, die seit fast drei Jahrzehnten Präsidentin ist. 1993 sind die Klagen immer noch anhängig und der Verein ruft erstmals zu einer Demo, genauer gesagt: zu einem "Biergarten-Trauermarsch", bei dem ein paar Tausend Teilnehmer von Großhesselohe zur Waldwirtschaft ziehen.

Ohne Erfolg: 1995 gibt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Klägern Recht und verfügt sogar, dass die Waldwirtschaft jeden zweiten Sonntag ganz geschlossen bleiben soll. Da liegt nahe, dass bald auch weitere Anwohner gegen Biergärten vor Gericht ziehen könnten. Ein Nachbar der Harlachinger Menterschwaige fordert sogar ein totales Biergartenverbot.

Wir dachten: Wenn die Waldwirtschaft fällt, dann fallen auch andere Biergärten.

sagt Ursula Seeböck-Forster

Eine Revolution steht unmittelbar bevor – die Revolution im Biergarten.

Kurzum: Eine Revolution ist unausweichlich. Eine Biergartenrevolution. Auf diesen knackigen Begriff kommt Manfred Schauer, der Wiesn-Schichtl. Und der Verein um die PR-Fachfrau Ursula Seeböck-Forster plant zwar nicht gleich einen kompletten Umsturz der Ordnung, aber immerhin eine große öffentliche Aktion zur Rettung der Biergärten.

Für den 12. Mai 1995 wird eine Demonstration organisiert. Vorher sammelt der Verein fleißig Unterschriften für eine Petition. "Der Zuspruch war riesig", sagt Seeböck-Forster. Mehr als 200.000 Menschen unterschreiben, auch Prominente unterstützten die Aktion, etwa Wolfgang Fierek, der selbst als Biergartenkellner gearbeitet hatte. Sogar Weltstar Kirk Douglas, der in den Bavaria Studios gedreht hatte und München gut kennt, lässt sich als Unterstützer zitieren.

Bislang größte Nachkriegsdemonstrationen in München

Auch die Münchner Medien sind von der Sache überzeugt: "Heute 16.30 Uhr Revolution! Auf geht’s zur Biergarten-Demo", titelt die Abendzeitung. Auch der ansonsten sehr gelassene Herr Hirnbeiß schließt sich den Revolutionären an, freilich auf seine entspannt-gemütliche Art. Seine Parole auf der Titelseite der AZ lautet: "Des sitz ma aus". Am 12. Mai treffen sich rund 20.000 Demonstranten auf dem Marienplatz, um für ihre geliebte Biergartentradition zu kämpfen – es ist eine der bis dahin größten Münchner Demonstrationen der Nachkriegszeit.

Viele waren zum ersten Mal überhaupt auf einer Demo. Manche kamen sogar von weiter her, zum Beispiel aus Regensburg.

Ursula Seeböck-Forster, die Präsidentin des Vereins zur Erhaltung der Biergartentradition

Die Blaskapelle spielt den Defiliermarsch und die Redner sind sich alle einig. Bloß weil "nachmittags um neun Uhr" 50 Leute müde seien, sollen Hunderttausende ins Bett gehen, so bringt es Manfred Schauer auf den Punkt. Dem Schichtl wird gleichwohl auch auf dem Marienplatz der Schädel abgehauen. Alle Fernsehsender von ARD bis RTL sind gekommen, um über dieses bajuwarische Schauspiel zu berichten, und Ursula Seeböck-Forster muss sogar ausländischen Medien auf Englisch erklären, wofür die Demonstranten kämpfen.

Politische Unterstützung für die Demonstrationen: Politiker schließen sich an

Die Politik schlägt sich einhellig auf ihre Seite. Der damalige Finanzminister Theo Waigel ruft: "Jeder weiß vorher, wo er ein Haus baut oder eine Wohnung mietet. Man kann auch nicht ein Grundstück am Bahndamm kaufen und dann den Zugverkehr verbieten lassen." Auch die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger demonstriert mit: "Mir verschlägt es die Stimme, wenn ich nicht mehr abends in den Biergarten gehen kann", sagt sie leicht heiser. Und welcher Politiker wäre auch so narrisch, sich nicht auf die Seite des Volkes zu schlagen, das einmütig wie selten und mit guten Gründen gegen die Interessen einiger weniger Anwohner aufbegehrt?

Ministerpräsident Stoiber und die Biergarten-Verordnung: Die Kompromisse und Regeln

Als die Demonstranten unter Kuhglockengeläut vom Marienplatz zum Odeonsplatz gezogen sind, wartet dort bereits der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber auf sie. Er hat mit heißer Nadel eine Biergarten-Verordnung stricken lassen, die er den "lieben Revolutionären" dort präsentiert. Sie muss zwar später nochmal nachgebessert werden, legt dann jedoch die bis heute gültigen Regeln fest: Um 22.30 Uhr wird die letzte Maß ausgeschenkt, um 23 Uhr ist Ruhe. Und eben nicht schon "nachmittags um 21 Uhr", um mit dem Schichtl zu sprechen.


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