AZ-Report: Ramsch-Hour an der Bavaria

Feiern statt Feilschen: Auf dem Mega-Flohmarkt auf der Theresienwiese regieren Trödel-Prinzen statt Ramsch-Könige. Der Basar wird für die jungen Münchner zur riesigen Szene-Party.
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Die Trödel-Prinzen: Oliver Gehrke (li.) und Sebastian Güniker stahlen den anderen Ständen die Show.
Ronald Zimmermann Die Trödel-Prinzen: Oliver Gehrke (li.) und Sebastian Güniker stahlen den anderen Ständen die Show.

MÜNCHEN - Güni weiß noch nicht, was er heute verkaufen wird. Es ist Samstag, 6.18 Uhr früh, über dem Bavariaring geht die Sonne auf. Seit zwei Stunden schon karren Sebastian Güniker und Kumpel Oliver Gehrke eine Kartonkiste nach der anderen über die Kieswege auf die Theresienwiese. „Kein Plan, was da drin ist“, sagt Sebastian, den seine Freunde nur „Güni“ nennen. Die Kartons stammen aus dem Fundus einer insolventen Promotion-Agentur und lagern schon seit Jahren im Keller des 33-Jährigen. Jede Schachtel ist ein riesiges Überraschungs-Ei.

Seit Freitag herrschte auf der Theresienwiese Trödel-Terror. Das Münchner Flohmarkt-Monster - der größte Bayerns - wächst von Jahr zu Jahr. 20000 Schnäppchenjäger bevölkern den Basar unter der Bavaria, hunderte von professionellen Ramsch-Königen versuchen, ihre Dachbodenschätze unters Volk zu bringen. Allerdings regieren auf der Theresienwiese längst Ramsch-Prinzessinnen und Trödel-Prinzen. Denn immer mehr junge, szenige Münchner haben den Flohmarkt für sich entdeckt und wollen vor allem eines: Feiern statt Feilschen! Das Verscherbeln gerät zur unterhaltsamen Nebensache.

Den Verkaufsplatz für die „Flomis“, wie sich die schräge Gruppe um Güni und Oliver selbst nennt, hat Harry Michel reserviert - und den frisch ergatterten „Point-of-Sale“ gleich bei Facebook gepostet. „Unsaa Platz“, schreibt er auf seinem Profil und liefert GPS-Koordinaten per iPhone gleich mit. Ein Facebook-Freund kommentiert: „Komm jetzt auch.. Flug wieder annulliert..“ Carsten Röhr wollte eigentlich nach Peking, wegen der Vulkanasche und den ausfallenden Flügen heißt es jetzt auch für ihn: Feiern mit den Flomis.

Ab 10 Uhr ist Ramsch-Hour unter der Bavaria. „Der Parkplatz ist längst dicht - benutzen Sie den MVV“, quäkt es aus dem Radio. Am mit weißem Teppich ausgelegten Stand der Flomis ist mittlerweile die Hölle los. Der Inhalt von einem der vielen Kartons hat sich als Publikumsmagnet erwiesen: 50 glitzernde Oberteile in knalligem Orange.

Güni haut die in der Sonne blitzenden Disco-Kugeln zum Anziehen raus für einen Euro: „Nehmen Sie gleich zehn, dann haben sie eine ganze Party“, ruft er. „Wo habt ihr die Teile denn her“, fragt eine junge Käuferin, die gerade zehn Glitzerhemdchen für einen Junggesellinnen-Abschied gekauft hat. „Das willst Du nicht wissen“, lacht Güni.

Ein Urgestein aus dem Münchner Nachtleben hat ebenfalls sein Glück auf der Theresienwiese versucht und berichtet von seinen Erfolgen auf Facebook. „Für eine alte mazedonische Brosche aus der Ming-Dynastie, für die ich 40 Euro wollte, hat mir ein schräger Istanbulle mit Socken in den Sandalen 50 Cent in die Hand gedrückt und mit Zwiebelfahne gesagt: Passt schon!“, teilt P1-Türsteher-Legende Damir Fister seinen 3851 Social-Network-Freunden mit.

„Der Mega-Flohmarkt zu Füßen der Bavaria hat sich über die Jahre zu einem Moloch entwickelt“, findet Antiquitätenhändler Florian Millitsch. „Die vielen Privathändler machen die Preise kaputt, hier will doch keiner für irgendetwas mehr als einen Euro zahlen“, sagt der 56-Jährige, der lieber am Flohmarkt auf der Parkharfe neben dem Olympiastadion seine Dachbodenfunde und Erbstücke anbietet. „Wenn Du richtig Geld machen willst, musst Du alte Fahrräder aus den 70ern verkaufen, die liegen total im Trend“, rät Millitsch.

Güni reißt indes die nächste Kiste auf - und ahnt schon, dass er mit dieser Ware unfreiwillig den Verkauf des Tages machen wird. 36 Fußballtrikots aller Mannschaften der ersten und zweiten Liga aus der Saison 2006 hält der 33-Jährige plötzlich in der Hand. Ein Kunde kann sein Glück kaum fassen und kauft gleich die ganze Kiste - für 140 Euro. Standrekord!

„Nach dem nächsten Bier ziehen wir Hotpants an!“

 

Obwohl es den Flomis eigentlich nicht ums Geld geht, rollt der Rubel recht ordentlich. Zwischen Party und Penunsen besteht offensichtlich eine fruchtbare Symbiose. Je mehr Halligalli, desto besser laufen die Geschäfte. Der Mann mit den alten Fernsehern am Standl gegenüber schaut in die Röhre. Güni und Oli haben sich mittlerweile selbst in die Glitzerhemdchen geworfen, (Oliver trägt dazu Lederhosen) und stehlen allen die Show: „Nach dem nächsten Bier ziehen wir Hotpants an!“ Aufmerksamkeit erregen gehört auch im normalen Leben zur Kernkompetenz von Sebastian Güniker. Seit 2007 arbeitet er als Projektmanager in der Münchner Event-Agentur „Isarhelden“.

Die Sonne brennt inzwischen gnadenlos auf den Theresien-Trödel. Bier und Wein haben den Verkaufsgesprächen am Flohmarktstand in Reihe 18 jegliche Ernsthaftigkeit entzogen. Flomi Alfons Deinhard beispielsweise hält ein grünes Wählscheibentelefon in der Hand und ruft: „Daniel, ein Anruf für dich!“. Daniel trägt inzwischen einen ausgestopften Fuchs als Schal um den Hals (keiner weiß, wo er den plötzlich her hat), hat sich einen antiken Orden an die Brust geheftet - und kann gerade nicht ans Telefon, weil er zwei älteren Damen einen Ring verkaufen will. „Der ist so wertvoll, weil da oben so ein Dschungel-Gelöte drauf ist“, sagt er. Die beiden Omis verstehen nur Bahnhof.

Der Trödel-Trubel fordert irgendwann seinen Tribut. Gegen 16 Uhr ist die Luft so gut wie raus: Bücher, Klamotten und sonstige Überbleibsel gehen nur noch für Cent-Beträge über die Tische. Die meisten Profis beginnen mit dem Abbau der Stände schon um 15 Uhr.

Ergebnis nach zehn Stunden Feier-Feilschen am Flomi-Stand: 500 Euro mehr in Günis Kasse, ein gestohlenes Messerset an Harrys Tapeziertisch und die Erkenntnis, dass gut erhaltene Fahrräder aus den 70ern am Flohmarkt weggehen würden wie warme Semmeln. Wenn man denn welche zu verkaufen hätte.

Christoph Maier

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