AZ-Report aus der Blindenwerkstatt in Giesing: "Fühlen, wie das Kissen entsteht"

Obergiesing - In der Werkstatt warten zwei Waschkörbe voller Schurwollkissen auf ihre Abholung. Das Kissen-Modell "Jürgen", mit dem leuchtenden Streifen an der Seite, kostet 28,50 Euro pro Stück. Die Münchner Kammerspiele sind der Kunde: Das Theater hat die Stuhl-Kissen aus Naturwolle in der SWW-Werkstatt bestellt.
Von der braven Flickerlware von früher ist ihr Stil weit entfernt. Weitere Stuhlkissen heißen Ida, Anna oder Amalie. Farblich sind sie extravagant: Neonstreifen setzen Akzente oder sie sind violett und grün meliert. Die Webkunst stammt aus der SWW-Werkstatt für blinde Menschen und Menschen mit Seh-Behinderung im Obergiesinger Roßtalerweg.

Handarbeiten auf Weihnachtsmärkten und in zwei Läden in München
Wo früher die US-Offizierswohnungen der McGraw-Kaserne waren, produzieren heute 35 Mitarbeiter mit Handicap schöne und praktische Geschenke. "Die Kollegen freut es, wenn ihre Arbeit Sinn macht und ihre Arbeiten Abnehmer finden", meint eine Mitarbeiterin.
Im Online-Shop der SWW gibt es, was im Haus produziert wird: ökologische Feueranzünder, wärmende Bierbankauflagen, bayerische Fleckerlteppiche und Kinder-Teller mit dem Motiv eines schlafenden Fuchses.
Auf Weihnachtsmärkten und in zwei Läden in München sind die Sachen zu finden: dem Galerieladen Siebenmachen für handgefertigte Geschenke in der St. Bonifatiusstraße und dem DK Stil-Geschäft in der Siegfriedstraße in Schwabing.
Werkstattleiterin: "Was wir machen, ist Upcycling"
Robuste Stuhlkissen und Bierbankauflagen sind bei Kunden besonders beliebt: Sie sind aus Stoffresten grob gewebt. "Wir verwerten Reste, die Abfälle einer großen Industrieweberei in Bayern, die Schals und Tücher macht. Was wir machen, ist Upcycling", sagt Werkstattleiterin Kunigunde Frey. Ihre Kollegin Sabine Körner ist in der Weberei für Design und alles Kreative zuständig: "So arbeiten wir heute schon mit den Modefarben für nächsten Winter. Sie sehen, es sind viele Rot- und Orangetöne dabei!"

Rollstühle und Rollatoren warten vor der Tür der Weberei. Der Grund: Die Menschen in den Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte (SWW) haben oft zu ihrer Sehschädigung weitere körperliche Probleme.
Sonderbestellung: Handgewebte Teppiche
Im Raum stehen große Webstühle für handgewebte Teppiche, die als Sonderbestellung gefertigt werden. Die meisten Mitarbeiter sind jedoch beschäftigt mit "Stäbchenweben" für Stuhlkissen. "Die Technik ist ähnlich, wie beim Korbflechten" erklärt Ihsan Kilicsaymaz (43) der AZ. Der blinde Mann kommt täglich um 8.30 Uhr aus Neuperlach mit dem Fahrdienst zur Arbeit.
"Ich sehe das Produkt nicht, ich fühle halt, wie das Kissen entsteht", sagt er. Die Stimmung mit den Kollegen, die Geschichten, die in der Weberei erzählt werden, die Mittagspause und der Nachtisch im Casino – alles gefällt ihm. Er arbeitet im Webhandwerk, seit er 21 Jahre alt war.
Werkstattleiterin:"Herzlichkeit und Menschlichkeit sind mir wichtig"
Seine Kollegin Johanna Kappauf ist nur noch ehrenamtlich in der Werkstatt. "Auch, um meine Freunde zu treffen", sagt sie. Denn die 23-Jährige ist in den regulären Arbeitsmarkt eingestiegen. Sie hat seit der Spielzeit 2022/23 einen Vertrag als Schauspielerin bei den Münchner Kammerspielen. Für das Stück "Wer immer hofft, stirbt singend" hat sie als beste Darstellerin mit Behinderung den Therese-Giehse-Preis erhalten.

Ein Stockwerk tiefer töpfert Shamal Barzani in der Porzellanmanufaktur zwei Schüsseln am Tag. Dabei hört er gerne deutsche Schlager und DJ Ötzi, erzählt er. Wenn er nach acht Stunden Arbeit wieder bei seinen Eltern in Neuhausen ist, radelt er eine Runde auf dem Hometrainer – als Ausgleich.

"Herzlichkeit und Menschlichkeit sind mir wichtig. Ziel ist, dass die Menschen einen Ort finden, wo sie sich selbst verwirklichen, trotz ihrer Einschränkung, Zutrauen zu sich haben und sich als Teil der Gesellschaft fühlen", sagt Kunigunde Frey. Es wird hier auch gelacht – "und wie!", weiß die Werkstattleiterin. Man rede übereinander, erzählt Geschichten oder erfindet welche. Kommunikativ ist die Stimmung jedenfalls.
Es gibt auch Pärchen im Haus, die Händchen halten. Fast alle Freunde und sozialen Kontakte sind an der Arbeitsstelle. Ein Teil der Mitarbeiter wohnt bei ihrer Familie, ein Teil im Blinden-Wohnheim nebenan, das 100 Plätze hat. Wegen Corona hatte die SSW-Werkstatt bis Juni ein Betretungsverbot. Nun freuen sich die Handwerker auf Aufträge – und über Besuch.
Laden im Eingang (Roßtalerweg 2-4). Onlineshop unter: sww-muenchen.de