AZ-Interview mit Transfrau Julia Prillwitz: "Ich will geliebt werden"

Julia Prillwitz (42) wurde als Bub in Brasilien geboren und lebt heute als Frau in Starnberg. Seit Jahren verkehrt sie in Münchens Society, doch nur die wenigsten wussten von ihrem Geheimnis. Jetzt hat die Transsexuelle ein Buch über ihr Leben geschrieben.
AZ: Frau Prillwitz, Sie sind als einziger Sohn eines wohlhabenden Ehepaares in Manaus zur Welt gekommen. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie anders sind als andere Kinder?
JULIA PRILLWITZ: Ich war fünf oder sechs Jahre alt, mit meinen Cousinen im Badezimmer und mein Körper sah ganz anders aus als ihre. Da war ein bisschen mehr Fleisch. Ich habe sofort meine Mutter gefragt, was da los ist. Sie sagte: Du bist wie Papa, und die Mädchen sind wie Mama. Ich dachte, sie spinnt. Ich bin doch nicht wie Papa! Ich habe einen Freund und ich sehe toll im Röckchen aus! Tatsächlich habe ich aber schon damals verstanden, dass ich anders bin – und mich so akzeptiert.
Und Ihre Eltern?
Mein Vater hat mich als Teufelsbrut bezeichnet, und meine Mutter wollte sowieso kein Kind von diesem Mann. Sie war in einen anderen verliebt, der sich erhängt hat, weil er sie nicht heiraten durfte. Sie musste meinen Vater aus gesellschaftlichen Gründen heiraten, einen Fremden, den sie nicht liebte. Während meine Mutter in den Wehen lag, ist nicht nur meine Oma gestorben, auch meine Mutter und ich hätten meine Geburt fast nicht überlebt. Lauter schlechte Vorzeichen. Sie hat mich nie geliebt.
Was macht Sie da so sicher?
Ich habe sie einmal gefragt, warum sie an beiden Oberschenkeln Einstichnarben hat. Sie hatte sich mit meinem Vater gestritten. Er war mit einem Messer auf sie losgegangen und sie hatte mich – ihr eigenes Kind – als Schild vor sich gehalten. Deshalb hat er nur ihre Beine getroffen.
Sie sind als Teenager auf ein europäisches Internat geschickt worden – und geblieben. Hatten Sie jemals wieder Kontakt zu Ihren Eltern?
Zu meiner Mutter nicht. Mein Vater ist mittlerweile gestorben. Aber vorher hat er mich angerufen. Er hat geweint und gesagt: Bitte verzeih mir, was ich dir angetan habe.
Was hat er Ihnen angetan?
Ich glaube, dass er mich missbraucht hat, kann mich jedoch nur bruchstückhaft erinnern. Ich weiß, dass ich seinen Penis berührt habe. Warum sollte ein Kind das tun, wenn es nicht von einem Erwachsenen dazu angestiftet wird? Ich erinnere mich daran, dass er sagte, das sei ein Spiel und dass ich dachte: Juchhu, früher oder später wird es sicher lustig. Aber sein Spiel hat mir nur wehgetan.
Er war nicht der Einzige, der Sie missbraucht hat.
Nein. Ich war sehr weiblich, hatte wunderschöne lange Haare, und jeder wusste: Dieses Kind ist nicht normal. Leider haben viele Leute – vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft – in diesem Anderssein einen Freifahrtschein gesehen. Was mich heute, als erwachsene Frau, besonders erschreckt: Ich habe mich mit der Zeit danach gesehnt. Die Nachbarn haben mich ja nicht vergewaltigt, sie haben mich „nur“ missbraucht. Sie haben auf mich onaniert, sich an mir gerieben, sich befriedigen lassen. Ich habe keine Schmerzen gespürt – sondern Wärme. Und manchmal saß ich da und wartete nur darauf, dass einer von ihnen nach mir ruft.
Sie haben, noch als Schülerin, einen Deutschen geheiratet und hatten nach ihrer Scheidung eine Vielzahl an Liebhabern. Die meisten haben sich in eine Frau verliebt – und erst später erfahren, dass Sie etwas Besonderes sind. Wie funktioniert das?
Ich lasse den Männern zunächst Zeit, die Person Julia kennenzulernen. Ich erlaube keinen Kuss und keine Berührung. Gleichzeitig versuche ich, herauszufinden: Was denkt dieser Mann über Homosexuelle? Über Schwarze? Es gab mal einen Herrn, der, als ich gerade eine Reportage über Naomi Campbell gelesen habe, sagte: Die Schwarzen sind doch alle Primaten. Der blanke Horror! Zu so einem Mann kann ich niemals sagen, dass ich eine Transsexuelle bin. Never ever!
Was geschieht, wenn der Mann keine Vorurteile hat?
Dann erzähle ich meine Geschichte in einer verniedlichenden Form: Es war einmal ein kleines Mädchen, das früher ein Junge war... Ich tue das immer an öffentlichen Orten, weil ich ja nicht weiß, wie die Reaktion des Mannes sein wird. Ich habe davon gelesen, dass schon Transsexuelle von frustrierten Männern in die Tiefe gestürzt worden sind.
Und dann?
Dann schlucken die Männer und das Erste, was sie sagen, ist: Ich bin aber nicht schwul. Heterosexuelle Männer haben eine unheimliche Angst davor, als schwul zu gelten. Eine Angst, die sie bei mir nicht haben müssen: Ich bin zu 99,99 Prozent eine Frau – nur ein einziger Teil von mir ist männlich. Ein homosexueller Mann könnte mit so viel Weiblichkeit gar nichts anfangen: Es riecht nach Weib, es spricht wie ein Weib, es läuft wie ein Weib und es will Weibersachen. Da ist nur ein einziger Unterschied.
Wie verhalten Sich die Männer, wenn Sie sich offenbaren?
Es gab welche, die aufgestanden und gegangen sind, ohne ein Wort zu sagen. Einer von ihnen stand dann um fünf Uhr morgens vor meiner Tür: Ich habe keine Sekunde geschlafen, ich habe keine Ahnung, was wir machen werden – aber ich bin verliebt.
Eine schwierige Situation.
Ja. Gerade für Männer, die eine konservative Erziehung erfahren haben. Einer sagte mal zu mir: Du bist meine Traumfrau, aber meine Familie würde dich nie akzeptieren. Bei uns heißt es heiraten, Haus bauen, Kinder kriegen, Frau betrügen – etwas anderes wird nicht geduldet. In unserer Gesellschaft herrscht unglaublich viel Intoleranz. Dabei geht es auch anders. Mein Schwiegervater wollte wirklich nicht wissen, was wir zu Hause machten. Aber er wusste, dass ich seinen Sohn glücklich mache und das war für ihn das Wichtigste.
Wie reagieren Frauen auf Sie?
Manche spucken mich an. Eine entfernte Bekannte, die jetzt mit einem Exfreund von mir zusammen ist, behauptet, sie würde ihren Mund regelmäßig mit Chlorex ausspülen, weil ich ein Bakterium bin und sie sich nicht anstecken will.
Nach der Scheidung haben Sie nicht mehr geheiratet. Ihre Liebhaber waren allerdings oft liiert.
Ich habe nicht den Anspruch, jemanden einzusperren. Das Wort Geliebte ist doch wunderschön. Ich will geliebt, vermisst und beschenkt werden – und nicht als ungeliebte Ehefrau zu Hause sitzen.
Die Konsequenz daraus ist, dass Sie an Feiertagen allein sind. Tut das nicht weh?
Doch. Aber ich weiß, auf was ich mich eingelassen habe. Das ist nur schwierig, wenn man nicht realistisch ist.
Vielleicht hängen diese Momente der Einsamkeit mit dem Männer-Typ zusammen, der Sie anspricht: reich, erfolgreich, prominent.
Ich hab keinen speziellen Typ Mann. Das wird nur oft falsch verstanden. Erfolgreich bedeutet nicht, dass er Millionär sein muss. Es bedeutet, dass er sein Ziel erreicht hat. Ich bin auch das, was ich immer sein wollte. Was soll ich da mit einem Studenten, der noch keine Ahnung hat, wo er hin will? Deswegen stehe ich auf ältere, erfolgreiche Männer.
Lange wussten nur Ihre Männer und einige Freundinnen über Ihre Sexualität Bescheid. Dann wurden Sie durch die Medien geoutet. Welche Folgen hatte das für Sie?
Schreckliche. Ich wurde von sehr vielen komisch angeschaut. Viele haben sich auch einfach weggedreht. Ich bin von etlichen Events ausgeladen worden. Menschen, die ich sehr lange kannte, wollten sich nicht mehr mit mir fotografieren lassen. Ich wollte für meinen Tapetenhandel ein Büro anmieten. Es war alles schon per Handschlag besiegelt. Aber dann erklärte mir der Vermieter: Frau Prillwitz, ich habe Sie gegoogelt. Sie sind doch dieser "Ladyboy" Ich will so etwas wie Sie nicht im Haus haben – lieber lasse ich die Räume leer stehen. Plötzlich war ich sehr allein. Ich saß tagelang in meiner Küche und habe mich gefragt: Warum? Ich habe doch niemandem etwas getan.
Es gab den Vorwurf, Sie hätten einen Liebhaber mit intimen Videos erpresst.
Aber das stimmt nicht. Ich habe Männern Videos geschickt – und sie mir, zum Spaß – aber ich habe niemanden erpresst.
Sie haben die Flucht nach vorne angetreten und ein Buch geschrieben. Wie kommt es an?
Ich werde oft darauf angesprochen, auch von „normalen“ Frauen, vor allem von älteren. Es gibt auch viele Transsexuelle, die sich jetzt an mich wenden: aus Polen, Tschechien und Russland. Und eine Münchner Gruppierung möchte, dass ich ihre Botschafterin werde. Aber es geht mir nicht nur um Transsexuelle. Es geht mir um alle Menschen, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden oder denen andere das Gefühl geben, nicht gut genug zu sein.
Warum haben Sie sich eigentlich nie operieren lassen?
Weil ich mich so akzeptiere, wie ich bin. Und ich glaube, dass auch viele andere Transsexuelle diesen Weg nicht gehen würden, wenn sie mehr Akzeptanz erfahren würden. Die OP ist sehr schwierig, es kann viele Komplikationen geben, und du musst ein Leben lang Medikamente nehmen.