AZ-Interview mit einem Lokführer: „Die Angst fährt mit“
MÜNCHEN - Albtraumberuf Lokführer: Wenn Selbstmörder sich von Zügen töten lassen, werden auch die Menschen im Führerstand zu Opfern. Einer von ihnen sprach mit der AZ über die Nacht, die er nie vergessen wird
Es war eine stürmische Septembernacht. Der Wind wirbelte Plastiktüten, Papier und Blätter über die Gleise. Lokführer Hans F. (Name geändert) saß allein auf seiner „Maschine“, einer vierachsigen E-Lok der Baureihe 111. Der damals 56-Jährige fuhr mit seinem Güterzug Tempo 90. Plötzlich sah er vor sich auf den Gleisen einen Mann. Er hatte die Arme ausgebreitet. Er blickte dem Lokführer entgegen.
Der Mann kam dem Zug entgegen
Was Hans F. vor 16 Jahren auf der Strecke München–Landshut erlebte, ähnelt frappierend der Situation des Lokführers, der am Dienstag gezwungen wurde, Nationaltorwart Robert Enke zu überfahren. 800 bis 1000 Menschen begehen jedes Jahr in Deutschland auf Bahnschienen Suizid. Meistens berichten Polizei, Eisenbahn, Rettungsdienste und Medien darüber nicht. Es gilt als erwiesen, dass Berichte zu Nachahmungstaten führen. 1981 strahlte das ZDF den Fünfteiler „Tod eines Schülers“ aus, der den Bahn-Suizid eines Abiturienten thematisiert. Innerhalb von 70 Tagen ließen sich 175 Prozent mehr männliche Jugendliche (15-19) von Zügen überrollen.
Suizide auf Bahnschienen - meist werden sie verschwiegen. Aber statistisch trifft es jeden Lokführer in seinem Berufsleben einmal. Einige sogar mehrmals. Die Folgen sind oft dramatisch. Immer wieder müssen bis dahin gesunde Männer ihren Beruf aufgeben, weil sie mit dem Trauma nicht fertig werden. „Du wirst selbst zum Opfer“, sagt F.
Laut Statistik überfährt jeder Lokführer einmal einen Selbstmörder
Es ist vor allem die Hilflosigkeit. „Du ziehst die Bremse und kannst vielleicht noch ein Signal mit der Pfeife geben, aber du weißt, es reicht nicht. Es geht zu schnell.“ Hans F. sieht den Mann auf sich zukommen, einen Moment später hört er „ein schweres Patschen“. Für den Selbstmörder ist es jetzt vorbei. Für den Lokführer ändert sich schlagartig sein Leben.
„Zuerst funktionieren die Jungs. Sie sind Profis. Also bringen sie den Zug zum Stehen, verständigen die Zentrale, sichern die Strecke. Das Loch kommt oft erst später“, weiß Peter Zehentner (41), Chef des Münchner Kriseninterventionsteams (KIT), das jährlich zu rund 60 Zugunfällen - darunter auch Suiziden - in der Stadt und im Landkreis ausrückt.
"Es war eine schlimme Zeit"
„Hernach kommt’s gewaltig. Es war eine schlimme Zeit“, sagt Hans F. Erst 500 Meter nach der Schnellbremsung kam der tonnenschwere Zug endlich zum Stehen. Hans F. fuhr ihn später sogar noch bis zum nächsen Bahnhof. Danach war er drei Wochen krankgeschrieben, anschließend arbeitete er zunächst im Büro. Doch schon nach sechs Wochen stieg er wieder in eine Lok. „Ich wollte mich nicht gehen lassen“, sagt er. Hans F. fuhr sogar die selbe Strecke. In der Lok begann er zu zitterten, darauf folgten Hitzeschübe. „Die Angst fährt mit.“ Nachts verfolgten ihn Albträume. Erst nach etwa zwei Jahren wurde es besser. Seine Familie half ihm sehr und die Gemeinschaft - Hans F. ist in mehreren Vereinen aktiv. „Ich lenke mich ab. Wenn man zu sehr zur Ruhe kommt, ist das nicht gut.“
Vergessen wird Hans F. den Mann mit den ausgebreiteten Armen nie. Als er von der Tragödie um Robert Enke erfuhr, „da war sofort alles wieder da“.
Nina Job
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