AZ-Interview mit Anne Hübner: "Die Sicht normaler Menschen fehlt"

München - AZ-Interview mit Anne Hübner: Sie sitzt seit 2014 für die SPD im Stadtrat, inzwischen leitet sie die Fraktion.
AZ: Frau Hübner, muss diesen Winter niemand Angst haben, zu frieren oder im Dunkeln zu sitzen – weil das Geld nicht reicht, die Rechnung zu zahlen?
ANNE HÜBNER: Es sind viele Hilfsangebote da. Zusätzlich zu den Hilfen des Bundes haben wir als Stadt einen Stromkostenzuschuss und einen Wärmefonds beschlossen. Für den Stromkostenzuschuss kann man schon Anträge stellen und den Wärmefonds gibt es ab Januar. Die genauen Sätze stehen noch nicht fest. Wir hoffen, dass ein Einpersonenhaushalt 500 Euro im Jahr zusätzlich bekommt und jedes weitere Haushaltsmitglied 200 Euro. Das Problem ist eher, dass die Menschen von den Hilfen auch erfahren.
"Erst einmal sollte die Stadt vertrauen"
Auf Wohngeld muss man monatelang warten. Wie wollen Sie garantieren, dass die Energie-Hilfen nicht erst im Sommer fließen?
Die Gelder sollen innerhalb von zwei Wochen ausgezahlt werden. Ich bin da optimistisch. Denn neben der Antragsstellung in den Sozialbürgerhäusern wird es auch Sprechstunden in Alten- und Service-Zentren, in Nachbarschaftstreffs und Familienzentren geben. Außerdem haben wir für das Sozialreferat diese Woche 27 Stellen bewilligt. Wichtig ist mir, dass die Verwaltungsverfahren einfacher werden. Niemand, der 100.000 Euro auf dem Konto hat, wird ins Sozialbürgerhaus gehen, um dort 500 Euro Wärmehilfe abzustauben. Zu 99 Prozent kommen nur Menschen, die wirklich in Not sind. Ich könnte mir vorstellen, dass die Antragssteller eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, dass sie bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschreiten.
Sie wollen also Gelder komplett ohne Nachweis an die Münchner verschenken?
Gegebenenfalls könnte man stichprobenartig kontrollieren. Aber erst einmal sollte die Stadt vertrauen. Wir brauchen diesen Kulturwandel. Menschen sollen sich nicht wie Bittsteller fühlen.

"Beim Mietrecht braucht es Veränderungen"
In München wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Gleichzeitig regiert hier seit Jahrzehnten die SPD. Was läuft da schief?Statistisch gesehen wird die Zahl der Armen in München nicht größer. In den vergangenen Jahren galten immer um die 300.000 Menschen als armutsgefährdet. Das sind natürlich zu viele. Aber die Stadt hat über Jahrzehnte hinweg viel getan. Die Summe der Zuschüsse für soziale Leistungen in den Alten- und Service-Zentren oder Jugendtreffs hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt auf inzwischen mehr als 250 Millionen Euro pro Jahr. Es gibt kostenlose Mittagessen für Senioren, es entstehen überall unheimlich schöne Einrichtungen für Jugendliche und Ältere. Was die Kommune tun kann, das macht sie gut. Aber beim Helfen mit Geld sind ihr oft die Hände gebunden. Ein kommunales Wohngeld, was die CSU gefordert hat, würde die Stadt schnell 100 Millionen Euro im Jahr kosten. Das kann sich die Stadt nicht leisten.
Schulden sind keine Option?
Das Tragische ist: München hat ähnliche Herausforderungen wie Hamburg oder Berlin, aber nicht die gleichen finanziellen Möglichkeiten. Hamburg hat über 30 Milliarden Euro Schulden. Unsere maximale Schuldengrenze liegt bei sechs Milliarden Euro. Ansonsten würde die Regierung von Oberbayern den Haushalt nicht mehr genehmigen. Das ist frustrierend. Gleichzeitig nehmen wir viel Geld in die Hand. Für bezahlbaren Wohnraum und den Schulbau investieren wir zusammen fast zehn Milliarden Euro.
Trotzdem wartet man auf eine Sozialwohnung jahrelang.
Uns ist auch klar, dass die 2.000 geförderten Wohnungen, die im Jahr entstehen, den Bedarf nicht decken. Deshalb braucht es beim Mietrecht Veränderungen. Erst vor kurzem hat der OB einen Brief nach Berlin geschrieben, um drastische Mieterhöhungen durch den kommenden Mietspiegel abzuwenden. Aber die Antwort war, dass man leider nichts machen kann.
"Die Stadt kann nicht jedes Haus kaufen"
Bitter – wo doch der Kanzler auch von der SPD ist.
Ja, aber für das Mietrecht ist der FDP-Justizminister zuständig und bei der FDP gibt es bei dem Thema wenig Bewegung. Das ist bitter. Denn in München wird man nie so viel neu bauen können, dass man darüber den Markt bremsen kann.
Hat die SPD ihre Forderung "Wir kaufen uns die Stadt zurück” aufgegeben?
Wir müssen genau hinschauen, was wir kaufen und gut verhandeln. Denn auch der Markt zahlt nicht mehr jeden Preis. Deswegen kriegt die Stadt jetzt jede Woche zwei oder drei Angebote von privaten Investoren. Doch die Stadt kann nicht jedes Haus kaufen.
Also bleibt München im Kampf gegen die Armut unterm Strich nichts als bittende Briefe nach Berlin zu schreiben?
Natürlich ist das nicht alles, was wir tun. Wir haben mehr freiwillige soziale Leistungen als jede andere deutsche Stadt und bauen diesen Bereich kontinuierlich aus. Alle gemeinnützigen Organisationen bekommen für das kommende Jahr fast 20 Millionen Euro zusätzlich. Wir werden die Armutsrisikogrenze künftig jedes Jahr an die Inflation anpassen statt wie bisher nur alle fünf Jahre. Das bedeutet, dass die Menschen schneller Zugriff auf den München Pass bekommen. Damit sind viele Vergünstigungen verbunden, unter anderem ein günstiges MVV-Ticket.
"Müssen städtisches Geld da einsetzen, wo es am meisten gebraucht wird"
Würde es nicht viel mehr bringen, wenn die Ticketpreise für ÖPNV, Tierpark und Theater für alle günstiger wären?
Theatertickets werden schon jetzt hoch subventioniert und sind genau wie der Zoo vergleichsweise günstig. Wir müssen städtisches Geld jetzt da einsetzen, wo es am meisten gebraucht wird.
Trotzdem kann sich jemand, der in München den Mindestlohn verdient, den Theaterbesuch wohl selten leisten.
Deshalb hat der OB die Initiative gestartet, dass es in München einen Mindestlohn von 15,60 Euro braucht.
Müsste die Stadt nicht zuerst mit gutem Beispiel vorangehen? Der Betriebsrat der München Klinik beklagt, dass das Reinigungspersonal unter prekären Zuständen arbeitet, weil dort bloß noch Fremdfirmen beauftragt werden.
Natürlich besteht bei uns die Bereitschaft, mehr zu zahlen und das Reinigungspersonal wieder in die eigene Hoheit zu holen. Aber zuerst müssten die Kliniken durch den Bund vernünftig finanziert werden. Auch im Sozialbereich sind Reinigungsfirmen ausgelagert. Da haben wir jetzt die Kosten übernommen, die auf die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro zurückzuführen sind. Und natürlich müssten wir, wenn wir einen Münchner Mindestlohn von 15 Euro starten wollen, das wieder tun.
"Da denke ich mir schon: Ist das jetzt wichtig?"
Sie könnten es ja beantragen.
Das haben wir. Aber wir müssen auch schauen, wie wir es finanzieren. Beim nächsten Haushalt sind wir nur knapp über der Genehmigungsgrenze.
Ist es angebracht, in solchen Zeiten Millionen auszugeben, um Radwege grün anzumalen?
Die Einfärbung ist eine Forderung des Radentscheids. Der Stadtrat hat sich einstimmig entschieden, das Bürgerbegehren umzusetzen. Aber als ich das erste Mal ein Foto von dem grünen Radweg gesehen habe, dachte ich, es wäre eine Fotomontage. Es gibt dazu noch keinen Stadtratsbeschluss und die Kosten kennen wir auch nicht. Substanziell mehr als normaler Beton darf das nicht kosten. Uns ist es wichtig, dass die Menschen gut durch den Winter kommen. Andere haben da manchmal andere Prioritäten.
Von welchen Ideen sollten sich die Grünen verabschieden, wenn das Geld knapper wird?
Die Grünen stellen gerade viele Anträge zur Pop- und zur Feierkultur. Da denke ich mir schon: Ist das jetzt wichtig? Ich akzeptiere aber, dass wir in einer Koalition arbeiten, in der es unterschiedliche Schwerpunkte gibt. Vielleicht fehlt den Grünen manchmal die Sicht der normalen Menschen, bei denen das Geld knapp ist. Beim Dieselverbot hat sich die SPD hinter den Kulissen hartnäckig für soziale Ausnahmen engagiert. Ursprünglich sollte das Verbot für Euro-V-Diesel schon ab 1. Januar 2023 gelten. Dass es jetzt erst zum 1. Oktober kommt, ist ein Erfolg der SPD.
Zusammenarbeit mit den Grünen: "Fair und verbindlich"
Der bayerische Justizminister sagt: Das Verbot ist unnötig.
Aber wenn man ihn fragt, was die Stadt sonst hätte tun können, um die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten, kommt nichts. Ich bin dafür, ehrlich zu sein.
Zu behaupten, die Übergangsfristen sind großzügig, ist doch auch nicht ehrlich.
Immerhin ist es ein Jahr länger als ursprünglich geplant. Und für die meisten, die eine gute Begründung haben, zum Beispiel, weil sie jemanden pflegen, gibt es Ausnahmen. Auf der anderen Seite muss man denjenigen, die mit ihrem Auto gern zum Wirtshaus fahren, sagen, dass sie die Fahrt mit den Öffentlichen machen müssen.
Auf einer Skala von eins bis zehn wie ist also die Stimmung mit den Grünen gerade?
Ich würde sagen: sieben. Die Zusammenarbeit ist fair und verbindlich. Es ist nicht die Aufgabe der SPD, den Grünen ein möglichst bequemer Partner zu sein, sondern sozialpolitisch viel zu erreichen. Ich bin optimistisch, dass die Koalition bis 2026 hält.